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Bereichsausnahme Gefahrenabwehr – auch OLG Schleswig-Holstein bestätigt Wirksamkeit (VK Schleswig-Holstein, Beschl. v. 09.02.2022 – VK-SH 13/21, OLG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 28.03.2022 – 54 Verg 1/22)

EntscheidungDer Anwendungsbereich der Bereichsausnahme Rettungsdienst/Gefahrenabwehr aus § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB ist nicht auf den Katastrophen- und Zivilschutz beschränkt. Auch bei reiner Personalgestellung in der gesundheitlichen Gefahrenabwehr ist GWB-Vergaberecht nicht anwendbar.

§ 107 Abs.1 Nr. 4 GWB, § 182 Abs. 1, Abs. 3 S. 4 und S. 5 GWB, § 155 GWB, § 156 GWB, § 182 GWB, § 5 Abs. 1 S. 3 SHRDG, § 52 AO, Genfer Konventionen

Sachverhalt

Der Träger des Rettungsdienstes (in Gestalt einer GmbH) entschied sich dafür, die Bereichsausnahme Rettungsdienst/Gefahrenabwehr (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) anzuwenden und führte ein verwaltungsrechtliches Auswahlverfahren durch. National wurde die „Durchführung von Aufgaben des Rettungsdienstes“ bekanntgemacht. Entsprechend den Vergabeunterlagen waren gewerbliche Anbieter mit Gewinnerzielungsabsicht ausgeschlossen. Es konnten sich nur gemeinnützige Organisationen bewerben. Der Träger stellte Rettungsmittel und Rettungswachen selbst bereit. Insofern beschränkte sich das Auswahlverfahren auf eine Personalgestellung.

Ein Unternehmen, das nicht gemeinnützig ist, wandte sich mit einem Nachprüfungsantrag gegen die Anwendung der Bereichsausnahme. Die Antragstellerinnen hielten die Bereichsausnahme Rettungsdienst/Gefahrenabwehr für nicht einschlägig bzw. für europarechtswidrig.

Der Antragsgegner/Träger des Rettungsdienstes vertrat die Gegenposition. Er habe sich auf die Bereichsausnahme berufen dürfen.

Knapp sechs Wochen nach dem Nachprüfungsantrag entschied sich der Träger zur Kommunalisierung. Er hob das Auswahlverfahren auf. In der Folge wurde das Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer Schleswig-Holstein von beiden Seiten für erledigt erklärt.

Die Erfolgsaussichten des Antrages wurden im Rahmen der Kostenentscheidung somit inzident geprüft. Die Kosten wurden gegeneinander aufgehoben. Die Nachprüfungsinstanzen sahen (Nachteil für die Antragstellerinnen) die Entscheidung des Trägers für die Bereichsausnahme als wirksam an. Die Vergabekammer stellte aber klar, dass sie nicht nach Verwaltungsrecht ausführlich geprüft hat.

Die Tatsache, dass der Träger in die Kommunalisierung geflüchtet war und sich der Prüfung entzogen hatte, stellte einen Vorteil für die Antragstellerinnen dar. Dies führte schlussendlich zur Kostenaufhebung. Auch das OLG Schleswig-Holstein bestätigte, dass die Kosten gegeneinander aufzuheben seien.

Vergabekammer und Vergabesenat haben nichts zu weiteren Teilnahmevoraussetzungen i.R.d. Bereichsausnahme ausgeführt (z.B. dem möglichen Tatbestandsmerkmal „Mehrwert für den Bevölkerungsschutz“, s. dazu René M. Kieselmann/Mathias Pajunk, „Bestätigung der Bereichsausnahme Rettungsdienst – Weiterer Baustein in der Entscheidungspraxis durch das OLG Hamburg“ NZBau 2021, 174 (Besprechung von OLG Hamburg Beschl. v. 16.4.2020 – 1 Verg 2/20, NZBau 2021, 210). Dies lag vermutlich auch daran, dass dies vom Träger nicht thematisiert war. Zugelassen waren alle steuerrechtlich (§§ 52ff AO) formal gemeinnützigen Unternehmen.

Gegen den Beschluss der Vergabekammer ist am 25.02.2022 sofortige Beschwerde beim schleswig-holsteinischen Oberlandesgericht (AZ: 54 Verg 1/22) eingelegt worden. Das OLG Schleswig-Holstein hat die sofortige Beschwerde der Antragstellerinnen mit Beschluss vom 28.03.2022 zurückgewiesen. Die Entscheidung der VK ist damit bestandskräftig.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidungen der VK Schleswig-Holstein sowie des OLG Schleswig-Holstein stärken die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst. Sie leisten einen Beitrag zur Klärung der Tatbestandsvoraussetzungen. Ebenfalls bestätigen sie, dass im Vergaberecht keine ausführliche verwaltungsrechtliche Inzidentprüfung zum gesamten Verfahren stattfindet. Die Entscheidungen bestätigen weiter, dass die nationale Rechtslage EU-rechtskonform angewendet werden kann.

Offen (weil nicht von den Nachprüfungsinstanzen zu prüfen) bleiben in praxi Fragen zur landesrechtlichen Ausgestaltung der Bereichsausnahme, insbesondere zu möglichen weiteren materiellrechtlichen Voraussetzungen über die formale Gemeinnützigkeit hinaus („Mehrwert für den Bevölkerungsschutz“).

Im Einzelnen:

1. Bereichsausnahme und EU-Recht

Die VK sowie das OLG Schleswig-Holstein stellen klar, dass die u.a. im EuGH-Urteil zur Bereichsausnahme angesprochenen Bedenken zur nationalen Ausprägung der Gemeinnützigkeit in praxi unerheblich sind. Im Urteil vom 21.03.2019 – C-465/17 – NZBau 2019, 314, (318 ff.)) stellte der Gerichtshof – so VK und OLG – „ausdrücklich klar, dass eine europarechtskonforme Auslegung des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB in Verbindung mit § 52 AO in Betracht kommt.“ Moniert worden war die nationale Ergänzung in § 107 Abs. 1 Nr. 4 HS 2 GWB: „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne dieser Nummer sind insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind.

Zu dieser nationalen Ergänzung läuft aktuell wohl noch ein Verfahren der EU-Kommission (Vertragsverletzungsverfahren vom 15.07.2021, 2018/2272 – ein Informationsersuchen nach IFG dazu wurde mit Schreiben vom 26.11.2021 abgelehnt, Link [1]). Die Ergänzung im Halbsatz sei (so die VK – ähnlich wie die EU-Kommission) „nicht dazu geeignet [ist,] sicherzustellen, dass nur Einrichtungen und Organisationen umfasst sind, die ohne Gewinnerzielungsabsicht handeln.“ Das Vertragsverletzungsverfahren steht auch nach Auffassung des OLG Schleswig-Holstein einer richtlinienkonformen Auslegung nicht entgegen.

Kurz gefasst: Die Kritik des EuGH ist zwar juristisch nachvollziehbar. Aus der Sicht deutscher Praxis wirkt sie allerdings fast abwegig: Alle Hilfsorganisationen waren und sind gemeinnützig und erfüllen die nationalen Voraussetzungen nach § 52 AO. Zudem seien – so das OLG Schleswig-Holstein – ausländische Bewerber nicht durch die richtlinienkonforme Auslegung benachteiligt. Durch die richtlinienkonforme Auslegung unter Bezug auf § 52 AO würde nur auf die Definition der Gemeinnützigkeit im nationalen Recht zurückgegriffen. Es sei daher nicht notwendig, dass die Bewerber in Deutschland als gemeinnützig anerkannt seien.

Eine europarechtliche Definition der Gemeinnützigkeit gibt es zwar nicht, die materiellen Vorgaben des EuGH sind aber kongruent mit der deutschen Definition im Steuerrecht: Weder die Richtlinie 2014/24/EU noch sonstiges Unionsrecht enthalten eine entsprechende Definition von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen. Die Gemeinnützigkeit ist ein Begriff aus dem Steuerrecht. Es gibt (noch) kein übergeordnetes Steuer- bzw. Gemeinnützigkeitsrecht auf Unionsebene. Vielmehr kommt dem nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Bereichsausnahme ein Ermessensspielraum zu, wie er die konkreten Voraussetzungen des Gemeinnützigkeitsstatus insbesondere bei der Mitwirkung von anerkannten Hilfsorganisationen ausgestaltet (Eingehend hierzu Jaeger, ZWeR 2016, 205, 224; Ruthig, NZBau 2016, 3, 6). Dies ist nach aktueller Rechtslage in der Sache letztlich unproblematisch, da alle anerkannten Hilfsorganisationen die mit den Vorgaben des EuGH kongruenten Kriterien des deutschen Gemeinnützigkeitsrechts materiell erfüllen.

Insofern ist die Diskussion über die nationale Ergänzung wie auch das o.g. Verfahren der Kommission ein Sturm im Wasserglas ohne Praxisrelevanz.

2. Landesrecht und Mehrwert für den Bevölkerungsschutz

Viel praxisrelevanter ist allerdings, ob rein formale Gemeinnützigkeit ausreicht, um unter der Bereichsausnahme „mitzuspielen“. Nachdem schon Ausschreibungen unter der Sonderregelung des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB im Markt bekannt geworden sind, an denen auch Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht (!) teilgenommen haben, scheint mancherorts der Zugang recht offen gehandhabt zu werden – vielleicht mit der Überlegung konfliktscheuer Träger, dass man weniger Ärger hat, wenn die bekannten Akteure in der Region mitmachen dürfen.

Hier ist eine Klarstellung angebracht: Die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst hatte bekannterweise im Fokus, das Gesamtsystem der Gefahrenabwehr zu stärken. Die Gefahrenabwehr ist wiederum bekanntlich staatliche Aufgabe auf allen Ebenen (was von manchen Akteuren im Bereich Rettungsdienst übersehen wird).

Begünstigt sind mit der Bereichsausnahme die anerkannten Hilfsorganisationen, die umfangreich (über den „Regelrettungsdienst“ hinaus) ehrenamtliche Kapazitäten unterhalten, ausbilden und stellen und damit in der Lage sind, die staatliche Gefahrenabwehr im Krisenfall bedarfsgerecht zu stärken. Diese Aufwachskapazitäten und Strukturen sind dann eine wertvolle Hilfe in Großschadenslagen wie Naturkatastrophen, Großunfällen, Pandemien bis hin zum Krieg. Insofern sind nur diejenigen Organisationen von der Bereichsausnahme geschützt, die auch Leistungen und Vorhaltungen „des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr“ erbringen. Die Unternehmen, die keinen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz erbringen und nur formal gemeinnützig sind, gehören nicht zum Adressatenkreis der Bereichsausnahme.

In Schleswig-Holstein ist klargestellt, dass die Bereichsausnahme angewendet werden kann (§ 5 Abs. 1 SHRDG). Der Topos Gemeinnützigkeit wird im Gesetz ebenfalls etwas umständlich und ausführlich dargestellt, vermutlich aufgrund der Monita des EuGH.

Ebenfalls ist klargestellt, dass ein Mehrwert für den Bevölkerungsschutz gefordert werden soll:

Bei der Beauftragung nach Absatz 1 sollen Kriterien einbezogen werden, die sich auf die Bewältigung von Großschadensereignissen beziehen.“ (§ 5 Abs. 3 SHRDG). Unklar bleibt, ob man das Kriterium auf der Eignungs- oder Zuschlagsebene verortet – das dürfte allerdings unerheblich sein: Im Verwaltungsvergaberecht außerhalb des GWB muss die ansonsten vergaberechtlich übliche strenge Trennung so nicht aufrechterhalten werden. So ist denkbar, dass man im Rahmen der Eignung Mindestvoraussetzungen fordert und später auf Zuschlagsebene ein darüber hinaus gehendes Maß an Engagement im Bevölkerungsschutz belohnt.

Da es bei Rettungsdienst regelhaft um hohe Auftragsvolumina geht, gibt es verständlicherweise auch Existenzängste privater Anbieter. Deren Interessen müssen ebenfalls betrachtet werden. Es liegt in niemandes Interesse, dass kleinere Rettungsdienstunternehmen, möglicherweise sogar Familienbetriebe, von heute auf morgen ihre Existenzgrundlage verlieren. Andererseits kann es auch nicht sein, dass genau die gleichen Auswahlverfahren wie im GWB-Vergaberecht nun außerhalb des GWB im Verwaltungsvergaberecht (hierzu Jacob Bühs, Vergabeblog.de vom 08.06.2020, Nr. 44153 und NVwZ 2019, 1410) durchgeführt werden – damit hätte niemand etwas gewonnen. Der Konflikt kann u.E. – das als Anregung an die Landesgesetzgeber – wie auch in vielen anderen Rechtsgebieten durch Bestandsschutzklauseln und Übergangsfristen abgemildert und verhältnismäßig ausgestaltet werden.

Nach wie vor umstritten ist, inwieweit die Landesgesetze unter der Bereichsausnahme einen Vorrang der Hilfsorganisationen postulieren müssen. Denkbar ist, dass das Landesrecht die Beteiligung Privater nicht zwingend vorschreibt und die Übertragung der Rettungsdienstleistungen an Dritte in das Ermessen des Trägers stellt (Ermessensregelung). Dies betrifft insbesondere die bisher bestehenden Regelungen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des OVG Niedersachsen (Beschluss v. 12.06.2019, 13 ME 164/19; kritisch dazu Kieselmann/Pajunk schon in Vergabeblog.de vom 11.07.2019, Nr. 41399 [2]). Der Vergabesenat äußerte in einem obiter dictum, dass eine vergleichbare Ermessensvorschrift im Landesrecht die für die Bereichsausnahme notwendige Privilegierung der Hilfsorganisationen nicht ermögliche.

Konkret schlussfolgerte das OVG obiter, dass es an einer Privilegierung der gemeinnützigen Hilfsorganisationen gegenüber gewerblichen Anbietern fehle. Zugleich postulierte das OVG eine vermeintliche Gleichrangigkeit gemeinnütziger und gewerblicher Anbieter im NRettDG, was der Regelung in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB entgegenstehe. Die damit einhergehende apodiktische Festlegung des OVG („Damit ist die Anwendung der Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB auf Ausschreibungen nach niedersächsischer Rechtslage grundsätzlich ausgeschlossen.“) stünde letztlich einer Ermessensregelung für den Aufgabenträger entgegen.

Folgte man der Rechtsprechung des OVG Niedersachsen, bedürfte es einer Regelung, welche Hilfsorganisationen im Landesrecht ausdrücklich privilegiert. In der Bereichsausnahme ist nämlich ausdrücklich festgelegt, dass nur diejenigen Dienstleistungen von den Regeln des Vergaberechts ausgenommen sind, die „von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden“ (persönlicher Anwendungsbereich). Wenn sonstige private Dritte (beispielsweise gewinnorientierte Unternehmen) landesgesetzlich vermeintlich den gleichen Rang haben wie die von der Bereichsausnahme begünstigten Hilfsorganisationen, dann ist zumindest eine denkbare rechtliche Folge, dass im Streitfall schon dieses Tatbestandsmerkmal (persönlicher Anwendungsbereich) nicht als gegeben angesehen wird. Die Gesetzgebung in den Bundesländern und die Bewertung durch die Judikatur ist weiter uneinheitlich.

Der niedersächsische Gesetzgeber hat übrigens im März 2021 reagiert und durch eine kurze Ergänzung in § 5 NRettDG (hoffentlich) klargestellt, dass die Bereichsausnahme angewendet werden kann (aufschlussreich zu Genese und weiterer Interpretation Eike-Heinrich Duhme, Vergabeblog.de vom 14.06.2021, Nr. 47124).

Dass die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr landesrechtlich nicht zu eng und formalistisch interpretiert werden darf, zeigen weitere Entscheidungen von Nachprüfungsinstanzen (OLG Hamburg, Beschluss vom 16. April 2020 – 1 Verg 2/20; VK Brandenburg Beschl. v. 1.6.2021 – VK 7/21, BeckRS 2021, 28088, OLG Brandenburg Beschl. v. 26.7.2021 – 19 Verg 3/21, BeckRS 2021, 28089.). Diese haben in den Bundesländern mit Verweis auf eine zumindest fakultative gesetzliche Vorrangstellung die Bereichsausnahme bestätigt (z.B. „Bei der Auswahlentscheidung können gemeinnützige Organisationen vorrangig berücksichtigt werden.“).

3. Prüfungsumfang der Vergabekammer

Es ist immer wieder strittig, welcher Normenkatalog im Nachprüfungsverfahren beleuchtet werden muss. Es besteht jedenfalls ein gewisser Konsens, dass keine umfassende rechtliche Prüfung aller Rechtsgebiete stattfindet. Hintergrund ist u.a. der Beschleunigungsgrundsatz (§ 167 GWB). So wird beispielsweise Kartellrecht nicht umfassend geprüft. Zwar ist es richtig, dass außervergaberechtliche Normen im Nachprüfungsverfahren grundsätzlich nicht ohne Weiteres tiefer geprüft werden müssen (OLG Düsseldorf, B. v. 07.11.2012 – VII Verg 69/11; OLG Karlsruhe, B. v. 01.04.2011 – AZ.: 15 Verg 01/11.). Maßgeblich ist, ob die außervergaberechtlichen Normen letztlich „Bestimmungen über das Vergabeverfahren“ sind, § 97 Abs. 6 GWB. So finden sich in der kartellvergaberechtlichen Praxis zwei – sich überschneidende – Ansatzpunkte, um außervergaberechtliche Vorschriften nach § 97 Abs. 6 im Wege einer Inzidentkontrolle in das Nachprüfungsverfahren einzubeziehen. Insbesondere die Vergabegrundsätze in § 97 Abs. 1 und 2 GWB stellen hierbei sog. Anknüpfungsnormen dar, durch die externe Regelungen in das vergaberechtliche Entscheidungs- und Nachprüfungsprogramm integriert werden. Vor allem der Wettbewerbsgrundsatz wirkt auf diese Weise integrierend. Andere Rechtsbereiche wie Arbeitsrecht, Zivilrecht etc. prüfen viele Vergabekammern daher inzident. Mit Blick auf den Topos „rechtliche Leistungsfähigkeit“ von Bietern instruktiv Tobias Schneider, Vergabeblog.de vom 19.11.2020, Nr. 45694; zum Abfallrecht Dominik R. Lück, Vergabeblog.de vom 28.09.2020, Nr. 45058.

Im konkreten Fall ging es u.a. darum, ob die Bereichsausnahme wirksam angewendet worden ist. Die Frage, ob Rettungsdienst selbst (kommunal, i.d.R. Landkreise, kreisfreie Städte, Zweckverbände) durchgeführt wird oder Dritte die Aufgabe durchführen (hier gibt es den klassischen öffentlichen Auftrag, Konzessionsvergaben oder Mischmodelle wie Verwaltungsakte), ist grds. eine Verwaltungsentscheidung. Diese richtet sich nach dem jeweiligen Landesrecht. Dieses wiederum besteht aus den Gesetzen zu Rettungsdienst, Katastrophenschutz und angrenzenden Bereichen wie dem allgemeinen Verwaltungsrecht. Teilweise ist die öffentliche Hand nur subsidiär tätig (Bayern, Baden-Württemberg), teilweise besteht ein Gleichrang bzw. es ist schon umfassend kommunalisiert (z.B. Brandenburg, Schleswig-Holstein in vielen Bereichen).

Die Frage, ob die Bereichsausnahme durch die Verwaltung rechtswirksam angewendet wurde, hat die VK inzident geprüft. Sie hat sich dabei allerdings auf „die vergaberechtliche Seite“ beschränkt. Sie hatte „insbesondere nicht zu prüfen, ob die verwaltungsrechtlich zu beurteilenden Entscheidungsprozesse ermessensfehlerfrei stattgefunden haben.“ Die Verwaltung hatte den Kreis der Bewerber auf gemeinnützige Unternehmen/Organisationen beschränkt. Dies entspricht den Mindestvorgaben gem. § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Nicht geprüft wurde, ob die Ausgestaltung gem. Landesrecht rechtskonform war. Insbesondere hat sich wohl niemand mit der Frage befasst, ob man nach Landesrecht noch weitere materielle Kriterien für den Bewerberkreis verlangen darf/soll/muss (s. dazu oben zum „Mehrwert für den Bevölkerungsschutz“, insgesamt zu sinnvollen Rahmenbedingungen und einem möglichen „Planungsmodell“ s. Kieselmann/Pajunk/Liefländer/Stadler/Böth „Die Bereichsausnahme als Beitrag zur Stärkung des gesundheitlichen Bevölkerungsschutzes“, in: Lüder/Stahlhut [Hrsg] „Gesamtverteidigung in Gefahr!? Auf dem Weg zu einer Gesundheitssicherheitspolitik. [3]“, S. 157 ff.).

4. Kostenrecht

Zur Kostenentscheidung gibt es nichts Spektakuläres zu berichten. Die Entscheidung des OLG konnte (entgegen §§ 175 Abs. 1, 65 Abs. 1 GWB) ohne mündliche Verhandlung ergehen, da die Hauptsache nicht betroffen war (OLG Brandenburg, Beschluss vom 03.01.2019, 19 Verg 5/18 u.a.). Die Kostenentscheidung kann isoliert angegriffen werden (s. u.a. BGH, Beschluss vom 25.10.2011, X ZB 5/10). Das Ermessen der Vergabekammer bei der Kostenentscheidung nach Billigkeit ist durch die Beschwerdeinstanz nur eingeschränkt auf Ermessensfehler zu überprüfen (OLG München, Beschluss vom 10.04.2019, Verg 8/18, Rn. 37 bei juris).

Die Argumentation des privaten Konkurrenten verfing nicht: Die Flucht in die Kommunalisierung wurde durch den Vergabesenat gerade nicht als Abhilfe gewertet. Auch das vermeintliche Ziel „kein Zuschlag an eine anerkannte Hilfsorganisation“ wurde nicht als glaubwürdig angesehen: Einen Schaden im Sinne des § 160 Abs. 2 S. 2 GWB stellt dies gerade nicht dar. Das „Interesse am Auftrag“ ist gerade nicht, dass der gemeinnützige Konkurrent keinen Auftrag erhält.

Auch ein Schadensersatzanspruch aus c.i.c. wurde nicht anerkannt. Kommunalpolitisch war noch unklar, ob kommunalisiert werden sollte oder Hilfsorganisationen beauftragt werden sollten. Es konnte dargelegt werden, dass die Gründe zur Kommunalisierung im Nachhinein offenbar wurden. Dies ist zwar für Bewerber misslich. Es stellt aber eine logische Folge aus dem Vergaberecht dar, dass man auch während/nach einem Vergabeverfahren Ausschreibungen aufheben darf.

Praxistipp

Die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr ist noch nicht überall angekommen. Mancherorts fliehen Träger in die Kommunalisierung. Dies erzeugt (auch wenn es positive Ausnahmen gibt) oft einen Schaden im ehrenamtlichen Bevölkerungsschutz. Bedenklich ist auch, wenn Hilfsorganisationen die Existenzgrundlage im Rettungsdienst entzogen wird. Hier wird oft vergessen, dass Hilfsorganisationen auch völkerrechtlichen Schutz genießen. Dies wird in der aktuellen Situation in der Ukraine wieder deutlich:

Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung mit ihren Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften versorgt ihrem Auftrag nach die Bevölkerung in Kriegsgebieten. Insbesondere wenn in der Bundesrepublik Deutschland öffentliche Infrastruktur durch Krieg ausgeschaltet sein sollte, springt das DRK als Auxiliar des Staates ein. Dies bedeutet reziprok, dass der Staat (und damit auch Aufgabenträger des Rettungsdienstes) seinerseits eine Unterstützungspflicht für Hilfsorganisationen hat (zum völkerrechtlichen Hintergrund s. zusammenfassend Heike Spieker u.a. in Johann, DRK-Gesetz, Nomos Handkommentar 2018, ebenso Kieselmann/Pajunk/Liefländer/Stadler/Böth „Die Bereichsausnahme als Beitrag zur Stärkung des gesundheitlichen Bevölkerungsschutzes“ s.o.).

Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz sind faktisch und auch rechtlich miteinander verknüpft: Zivil- und Katastrophenschutz sind ohne Verbindung zum Rettungsdienst nicht möglich und nicht denkbar: Patientenversorgung lernt man nicht nur an einer Gummipuppe, sondern am realen Patienten. Rettungsdienst ist integraler Bestandteil des Bevölkerungsschutzes. So ist in den meisten Bundesländern auch ausdrücklich klargestellt, dass zum Rettungsdienst auch die „Aufwachskapazitäten“ unterhalb der Katastrophenschwelle gehören: vgl. für Schleswig-Holstein nur § 1 Abs. 2 SHRDG, § 2 Abs. 6 SHRDG. Schnelleinsatzgruppen etc., die bei Großschadensereignissen ausrücken, sind großenteils ehrenamtlich besetzt. Dabei werden auch (sinnvollerweise) Fahrzeuge/Ressourcen aus dem Bevölkerungsschutz genutzt.

Wenn Konflikte in (oft suboptimal angelegten) Vergabeverfahren zur Flucht in die Kommunalisierung führen, mag das bequem sein. Langfristig schwächt sich der Staat dadurch selbst. Kommunen, Landkreise und Bundesländer können nicht auf der einen Seite erwarten, dass Hilfsorganisationen in allen Bereichen der Gefahrenabwehr (von Pandemiebekämpfung über Hilfe bei Naturkatastrophen und Flüchtlingsversorgung bis zu sonstigen Großschadenslagen wie Blackout) leistungsfähig aufgestellt sind, wenn sie auf der anderen Seite umfangreich kommunalisieren. Wenn ehrenamtlich Engagierten die regelmäßigen wichtigen und relevanten Betätigungsfelder in der Praxis fehlen, verlieren sie das Interesse, wandern ab oder stellen ihre ehrenamtliche Betätigung ein und stehen so dem Bevölkerungsschutz dauerhaft nicht mehr zur Verfügung. Durch Kommunalisierung geht in vielen Bereichen nicht nur die wirtschaftliche Grundlage verloren, sondern es entfallen auch wichtige Schnittstellen für den Aufbau von Kompetenzen in ehrenamtlich getragenen Bereichen.

Die Landesgesetzgeber sollten sich mit dem Thema Bereichsausnahme kritisch befassen. Oft ist die Regelung im Landesrecht suboptimal umgesetzt. Es sollte klargestellt sein, dass die privilegierte Beauftragung gemeinnütziger Hilfsorganisationen über die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr möglich ist und dass diese Hilfsorganisationen einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz bieten müssen. Reine Gemeinnützigkeit als Formalie reicht materiell nicht aus. Dies kann und muss in den entsprechenden Gesetzen zu Rettungsdienst und Katastrophenschutz rechtlich angelegt werden.

Bieter/Hilfsorganisationen sollten auf Qualität und Stärkung des Ehrenamtes achten. Die in vielen Bereichen ehrenamtlich geprägte Gefahrenabwehr war und ist schließlich die Begründung für die Bereichsausnahme.

Private Rettungsdienst-Unternehmen wechseln in vielen Bereichen in gemeinnützige Formen. Das ermöglicht bei manchen Trägern, auch bei Vergabeverfahren unter der Bereichsausnahme teilzunehmen, auch wenn dies dem Grundgedanken der Regelung widerspricht. Langfristig werden diese Privaten entweder selbst signifikant im Bevölkerungsschutz tätig sein müssen oder über einen Wechsel der Geschäftsstrategie nachdenken müssen. Denkbar und sinnvoll wäre übrigens, für Private einen gewissen Bestandsschutz einzuführen, wenn landesrechtlich die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr gestärkt wird. Die Hilfsorganisationen sehen sich üblicherweise nicht als „Feinde der Privaten“. In vielen Bereichen gibt es wertschätzende Koexistenz und Kooperation.

Kontribution

Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Rechtsanwalt Dr. Mathias Pajunk verfasst.

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Über Dr. Mathias Pajunk [4]

Dr. Mathias Pajunk ist ist Rechtsanwalt in der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte [5]. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in der Beratung von öffentlichen Auftraggebern bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Dienstleistungskonzessionen. Zu seinen weiteren Tätigkeitsfeldern zählt die Bearbeitung komplexer Fragestellungen auf den Gebieten des Beihilfen- und Kartellrechts.

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Über René Kieselmann [7]

René M. Kieselmann [8] ist Rechtsanwalt und verantwortet als Partner der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte [5] das Dezernat Vergaberecht. Er berät zusammen mit seinem Team bundesweit vor allem die öffentliche Hand, aber auch Bieter. Schwerpunkte sind u.a. IT-Vergaben und Rettungsdienst/Bevölkerungsschutz. Er ist Mitglied der Regionalgruppe Berlin/Brandenburg des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) [9]

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