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Wann kann eine Selbstausführung gefordert werden? (EuGH, Urt. v. 28.04.2022 – C-642/20 – Caruter)

Entscheidung-EUBietergemeinschaften (BiGe) werden in der Beschaffungspraxis häufig gebildet. Unternehmen versuchen dadurch ihre Wettbewerbschancen zu verbessern oder erst zu ermöglichen. Auftraggeber hingegen sehen BiGe mitunter skeptisch. Insbesondere im Hinblick auf die Leistungserbringung werden häufig Bedenken angemeldet. Das Vergaberecht will dem vorbeugen. Öffentliche Auftraggeber können daher vorschreiben, dass bestimmte kritische Aufgaben von einem BiGe-Mitglied ausgeführt werden müssen. Darf eine Vergabestelle auch verlangen, dass die Leistungen mehrheitlich vom bevollmächtigten Mitglied einer BiGe direkt erfüllt werden? Der EuGH verneint die Frage.

Art. 63 Abs. 2 RL 2014/24/EU, § 47 Abs. 5 VgV, § 6d EU Abs. 4 VOB/A

Leitsatz

Das EU-Vergaberecht erlaubt es nicht, das bevollmächtigte Mitglied einer BiGe zu verpflichten, mehrheitlich die Leistungen des ausgeschriebenen Auftrages zu erbringen.

Sachverhalt

Die Region Sizilien hat mit mehreren Kommunen Leistungen zur Sammlung und dem Transport von Hausmüll ausgeschrieben. Gegen die im Vergabeverfahren erstplatzierte BiGe ersuchte Caruter um Rechtsschutz. Grund dafür war, dass der Bevollmächtigte der für den Zuschlag vorgesehenen BiGe weder die Eignungskriterien noch die Leistungen mehrheitlich selbst erbringen konnte. Die mehrheitliche Selbstausführung wird vom italienischen Vergaberecht aber gefordert.

Die Entscheidung

Öffentliche Auftraggeber können zwar nach Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2014/24/EU (§ 43 Abs. 2 Satz 3 VgV) Bedingungen festlegen, in welcher Form BiGe Eignungskriterien zu erfüllen haben. Allerdings deckt die RL keine Forderung, wonach das bevollmächtigte Mitglied einer BiGe selbst die Mehrheit der Aufgaben direkt ausführen muss. Denn ein solches Verlangen präzisiert nicht, wie eine BiGe die nötigen personellen und technischen Ressourcen sicherstellt. Vielmehr betrifft sie die Auftragsausführung selbst, nicht die Eignung (Rdnr. 39 f.).

So eine Anforderung kann auch nicht mit Art. 63 Abs. 2 RL 2014/24/EU (§ 47 Abs. 5 VgV, § 6d EU Abs. 4 VOB/A) begründet werden. Danach kann ein öffentlicher Auftraggeber fordern, dass bestimmte kritische Aufgaben von einem Teilnehmer der BiGe ausgeführt werden. Trotz geringfügiger Unterschiede in den europäischen Sprachfassungen (bestimmte wesentliche Aufgaben, bestimmte kritische Aufgaben) zielt die Vorschrift u.a. auf die Förderung von BiGe kleinerer und mittlerer Unternehmen (KMU). Sie wird nur aus qualitativen (kritische/wesentliche Aufgaben), nicht aber aus quantitativen (mehrheitliche Leistungen) Erwägungen begrenzt. Die Forderung einer mehrheitlichen Leistungsausführung läuft dem Wortlaut der Richtlinienregelung zuwider und beeinträchtigt die Ziele, den Vergabewettbewerb möglichst umfassend zu öffnen sowie KMU den Marktzugang zu erleichtern (Rdnr. 42 f.).

Rechtliche Würdigung

Nach der älteren EuGH-Rechtsprechung (Urt. v. 02.12.1999 – C-176/98 – Holst Italia) bestand erhebliche Unsicherheit darüber, ob öffentliche Auftraggeber die Vertragserfüllung durch den Bieter selbst vorschreiben durften. Die RL 2014/24/EU stellt daher klar, dass öffentliche Auftraggeber nur ausnahmsweise die Selbstausführung von Leistungsteilen durch den Bieter oder einem Mitglied einer BiGe verlangen dürfen.

Die Entscheidung der Luxemburger Richter ist deshalb nachvollziehbar. Das EU-Vergaberecht ermöglicht weder ein generelles noch ein mehrheitliches Selbstausführungsgebot. Das gilt sowohl für den Einzelbieter als auch für die BiGe. Wortlaut sowie Sinn und Zweck würden andernfalls konterkariert. Denn bestimmte kritische Aufgaben beschreiben inhaltlich etwas anderes als eine qualitativ unterschiedslose mehrheitliche Leistungserbringung.

Das Urteil erläutert aber nicht, was genau kritische bzw. wesentliche Aufgaben eines öffentlichen Auftrages ausmachen. Damit werden nur vertragliche Teilleistungen gemeint sein können, niemals der gesamte Vertrag. Andernfalls würde es sich nicht um bestimmte Aufgaben, sondern um alle Aufgaben handeln. Eine fixe oder mehrheitliche Selbstausführungsquote kommt nach der Rechtsprechung nicht in Betracht. Eine solche Quote würde überdies die ökonomischen Ziele einer Unterauftragnehmerschaft gefährden (EuGH, Urt. v. 15.09.2019 – C-63/18 – Vitali). So wären die Bieter in ihrer unternehmerischen Entscheidung eingeschränkt, ihnen selbst fehlende technische, personelle, wissensgetragene oder kapazitätsbedingte Ressourcen über Dritte sicherzustellen. Zudem würde den Nachunternehmern die Möglichkeit genommen, überhaupt an öffentlichen Aufträgen teilzuhaben. Der öffentliche Auftraggeber muss anhand der Einzelfallumstände und der konkret ausgeschriebenen Leistungen bestimmen, ob und gegebenenfalls welche Teilleistungen er für kritische Aufgaben hält. Hilfreich kann die Überlegung sein, ob mit der Beauftragung von Unterauftragnehmern ein höheres Risiko einer verspäteten oder fehlerhaften Ausführung verbunden ist als beim Bieter oder bei der BiGe selbst und dadurch zu besonderen Nachteilen führt. Kritisch in diesem Sinne dürften Leistungen sein, die entweder besonders fehleranfällig oder für den Leistungserfolg von besonderer Bedeutung sind (VK Thüringen, Beschl. v. 19.12.2019 250-4003-15326/2019-E-010-G).

Praxistipp

Öffentliche Auftraggeber dürften gut beraten sein, ihre Überlegungen zur Selbstausführung bestimmter kritischer Aufgaben ausführlich zu dokumentieren (vgl. VK Niedersachsen, Beschl. v. 19.09.2019 VgK-33/2019). Als Ausführungsbedingung i.S.d. § 128 Abs. 2 GWB muss sich die Selbstausführung zudem aus der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen ergeben. Im Unterschwellenbereich kann nach § 26 Abs. 6 UVgO hingegen ausdrücklich vorgeschrieben werden, dass sogar alle oder eben nur bestimmte Aufgaben vom Bieter oder einem Mitglied der BiGe selbst erbracht werden müssen.

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Über Holger Schröder [1]

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner [2] in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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