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Verhandlungen mit nur einem Unternehmen nach gescheitertem Vergabeverfahren zulässig (EuGH, Urt. v. 16.06.2022 – C-376/21)

Entscheidung-EUDer Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) befasste sich mit der Frage, ob und inwieweit ein öffentlicher Auftraggeber mit einem einzigen Unternehmen verhandeln darf, nachdem ein offenes Verfahren mangels annehmbarer Angebote gescheitert war. Und ganz nebenbei gestattet sich das Gericht, Vergaberecht im Unterschwellenbereich auszulegen, ohne dass eine sog. Binnenmarkrelevanz vorliegt, wenn nämlich das nationale Recht auf das Oberschwellenrecht verweist. Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Dr. Roderic Ortner [1] hat sich die Entscheidung für uns näher angeschaut.

Artikel 26 Abs. 4 Buchstabe b) RL 2014/24; Artikel 32 Abs. 2 Buchstabe a) RL 2014/24; § 14 Abs. 3 Nr. 5 VgV; § 14 Abs. 4 Nr. 1 VgV

Sachverhalt

Öffentlicher Auftraggeber war die Gemeinde Raslog (Obshtina Razlog) in Bulgarien. Die kleine Gemeinde befindet sich eingebettet im Tal des Flusses Mesta umgeben von Bergen und ist den Bildern nach zu urteilen, eine Reise wert. Für das örtliche agrarwissenschaftliche Gymnasium schrieb sie in vier Losen verschiedene Einrichtungsgegenstände für das Gymnasium aus. Angebote erhielt sie nur auf ein Los, nämlich das Los Geräte zur Metallverarbeitung. Da der Angebotspreis mit 17.370,00 € doppelt so hoch war wie der geschätzte Auftragswert, stellte sie das Vergabeverfahren nach dem bulgarischen Vergabegesetz ein (bei uns wäre dies die Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Nr. 3 UVgO). Anschließend vergab die Gemeinde den Auftrag an ein Unternehmen im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach Artikel 18 Abs. 7 in Verbindung mit Artikel 79 Abs. 1 des bulgarischen Vergabegesetzes. Danach verhandelt der öffentliche Auftraggeber die Vertragsklauseln mit einer oder mehreren genau festgelegten Personen bei einem Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung (eine solche Regelung findet sich bei uns nicht). Letzteres liegt z.B. vor, wenn im Rahmen eines offenen oder nicht offenen Verfahrens kein Angebot oder Teilnahmeantrag eingereicht wurde oder wenn die Angebote oder Teilnahmeanträge nicht geeignet waren und die ursprünglichen Auftragsbedingungen nicht grundlegend geändert werden (dies entspricht bei uns ziemlich genau dem § 14 Abs. 4 Nr. 1 VgV). Dieses Vorgehen der Gemeinde wurde, wohl auf Hinweis eines Wettbewerbers des beauftragten Unternehmens, von der Aufsichtsbehörde gerügt und eine Finanzkorrektur in Höhe von 10 % ausgesprochen. Das Ganze ging dann hoch bis zum Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht), das dem EuGH Vorlagefragen antrug.

Sollten Sie, der geneigte Leser, den Sachverhalt bis hierhin gelesen haben, dann fragen Sie sich wohlmöglich, weshalb der EuGH für eine Auftragsvergabe in Höhe von 17.370,00 € zuständig sein soll. Eine mögliche Zuständigkeit sah das vorlegende Gericht darin, dass die Gemeinde Finanzmittel aus dem europäischen Struktur und Investitionsfonds erhalten hatte.

Daher lautete die erste Vorlagefrage (sehr vereinfacht), ob die EU-Haushaltsordnung auf die Vergabe Anwendung findet. Nur wenn diese Frage bejaht werde, wollte das vorlegende Gericht wissen, ob die Aufforderung nur eines Unternehmens mit der EU-Haushaltsordnung vereinbar sei.

Die Entscheidung

Der EuGH verneint die erste Vorlagefrage. Die EU-Haushaltsordnung finde keine Anwendung, wenn ein öffentlicher Auftraggeber aus einem Mitgliedstaat öffentliche Aufträge oder Konzessionen vergebe. Dafür gebe es die Vergaberichtlinien. Die EU-Haushaltsordnung finde Anwendung, wenn z.B. ein Organ der EU oder eine EU-Agentur u.ä. Aufträge vergebe.

Damit habe sich jedoch die zweite Vorlagefrage nicht erledigt. Der EuGH in Rn. 51:

„Der Umstand, dass das vorlegende Gericht seine Vorlagefrage unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof somit nicht daran, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können.“

Erste Hürde geschafft.

Allerdings stellte sich dem EuGH die berechtigte Frage, weshalb er zuständig sein soll für ein Vergabeverfahren, bei dem der maßgebliche Schwellenwert (zu diesem Zeitpunkt 209.000 €) bei weitem unterschritten war, und zwar soweit, dass man von einer Binnenmarktrelevanz wahrlich nicht sprechen kann, was der EuGH auch nicht tat (zum Thema Binnenmarktrelevanz siehe [2]). Gleichwohl zieht der EuGH die Kompetenz mit folgender Begründung in Rn. 54 und 55 an sich (auf das wesentliche gekürzt):

„Der Wert des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags erreicht zwar nicht den Schwellenwert, doch finden die Bestimmungen der Richtlinie 2014/24 [Vergaberichtlinie, Anmk. des Verfassers] kraft des nationalen Rechts unmittelbar und unbedingt auf Sachverhalte Anwendung, die wie der Sachverhalt des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags im Allgemeinen nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Aus Art. 49 Abs. 2 des Gesetzes über die europäischen Struktur- und Investitionsfonds, mit dem die Richtlinie 2014/24 wortgetreu in bulgarisches Recht umgesetzt worden ist, ergibt sich nämlich, dass das [bulgarische] Vergabegesetz unabhängig vom Auftragswert gilt. Wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung von Sachverhalten, die nicht in den Anwendungsbereich des betreffenden Unionsrechtsakts fallen, unmittelbar und unbedingt nach den in diesem Rechtsakt getroffenen Regelungen richten, besteht aber ein klares Interesse der Union daran, dass die aus diesem Rechtsakt übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt werden. Dies ermöglich nämlich, künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden und zu gewährleisten, dass diese Sachverhalte und die in den Anwendungsbereich dieser Bestimmungen fallenden Sachverhalte gleichbehandelt werden.“

Konsequenterweise legt schließlich der EuGH Artikel 32 Abs. 2 Buchstabe a) der Richtlinie 2014/24 aus, der seine Entsprechung bei uns in § 14 Abs. 4 Nr. 1 VgV gefunden hat. Er stellt fest, dass ein Angebot ungeeignet sei, wenn es unannehmbar im Sinne des Artikel 26 Abs. 4 Buchstabe b) RL 2014/24 ist (bei uns § 14 Abs. 3 Nr. 5 VgV) sei (Rn. 62). Dies treffe auf ein unwirtschaftliches Angebot zu. Dies sei offensichtlich der Fall bei einem Angebot, das mehr als das Doppelte des vom öffentlichen Auftraggeber angesetzten geschätzten Auftragswerts beträgt (Rn. 63).

Weiterhin sei es auch zulässig gewesen, dass die Gemeinde nur mit einem Unternehmen verhandelt habe. In einer solchen Konstellation bildeten das vorherige offene oder nicht offene Verfahren und das anschließende Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung nämlich ein untrennbares Ganzes, so dass der Umstand, dass die an diesem Auftrag möglicherweise interessierten Wirtschaftsteilnehmer Gelegenheit hatten, sich zu melden und in Wettbewerb zu treten, nicht außer Acht gelassen werden könne (Rn. 67). Daher könnten Wirtschaftsteilnehmer, die nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt hätten und in einem offenen oder nicht offenen Verfahren kein geeignetes Angebot abgegeben haben, im Rahmen des anschließenden Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung den öffentlichen Auftraggeber nicht dazu zwingen, mit ihnen zu verhandeln. Denn im Rahmen des vorherigen offenen oder nicht offenen Verfahrens habe es ihnen freigestanden, ein Angebot abzugeben und damit die Grundsätze der Gleichheit, der Nichtdiskriminierung, der Transparenz und der Verhältnismäßigkeit uneingeschränkt in Anspruch zu nehmen (Rn. 68).

Einschränkend weist der EuGH darauf hin, dass eine solche Direktvergabe nur zulässig sei, wenn der bezuschlagte Preis dem Marktpreis entspreche und dem geschätzten Auftragswert nicht übersteige (Rn. 69).

Rechtliche Würdigung

Zur Zuständigkeit des EuGH

Es ist ein wenig erstaunlich, dass der EuGH seine Zuständigkeit auch in solchen Fällen annimmt, bei denen eine nationale Rechtsvorschrift unmittelbar und unbedingt auf eine Regelung des Oberschwellenbereichs verweist. Damit unterstellt er dem nationalen Gesetzgeber, dass sich dieser mit dem Verweis in den Oberschwellenbereich gleichzeitig auch der Auslegungskompetenz des EuGH unterwerfen wollte. Der EuGH möchte damit nachvollziehbar verhindern, dass eine Rechtsvorschrift, die 1:1 dem EU-Vergaberecht entspricht, im Unter- und Oberschwellenbereich unterschiedlich ausgelegt wird. Unsere UVgO und auch die VOB/A bedienen sich des unmittelbaren und unbedingten Verweises in die VgV bzw. VOB/A-EU, die wiederum weitestgehend die Vergaberichtlinie umsetzen. Schaut man in die Kommentarliteratur zur UVgO, so findet bei Wortlautgleichheit ebenfalls in der Regel ein Verweis auf die VgV statt, so auch bei der VOB/A. Das bedeutet in aller Konsequenz, dass ein Verwaltungsgericht, etwa bei einem Rückforderungsprozess, oder ein Zivilgericht, etwa bei einem Schadensersatzprozess, das sich mit der Auslegung der UVgO oder VOB/A befasst, bei Auslegungsfragen den EuGH anrufen muss, wenn es sich um eine Regelung handelt, die letztlich der Vergaberichtlinie entnommen wurde. Meines Erachtens hat sich der EuGH und den nationalen Gerichten damit einen Bärendienst erwiesen.

Zur Direktvergabe nach gescheitertem Vergabeverfahren

Ob es dogmatisch sauber ist, in ungeeignete Angebote unannehmbare Angebote hineinzulesen und die Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 Nr. 4 VgV auf § 14 Abs. 4 Nr. 1 VgV überträgt, mag dahinstehen. Denn nach Sinn und Zweck (telos) der Regelung gebe ich dem EuGH recht. Wenn ein öffentlicher Auftraggeber ein offenes Verfahren (oder nicht offenes) durchführt und es meldet sich nur ein einziges Unternehmen, aber dessen Angebot ist zu teuer, dann muss es zulässig sein, mit diesem Unternehmen in Verhandlungen über den Preis zu treten. Es ist nicht erforderlich, dass der Auftraggeber dann auf Biegen und Brechen den Markt nach weiteren potentiellen Kandidaten absucht. Denn das vorherige Verfahren war ja quasi schon eine qualifizierte Markterkundung. Zurecht sieht der EuGH darin eine Konnexität (untrennbares Ganzes) der beiden Vergabeverfahren (so bereits Willweber, in: jurisPK, Auflage 2016, § 14 in Rn 64/64.1; siehe auch Ortner, in: jurisPK Auflage 2022, § 14, Rn. 48). Ein Unternehmen ist es selbst schuld, wenn es an dem ersten Verfahren nicht teilgenommen hat. Bei dem sich anschließenden Verhandlungsverfahren muss nicht erneut der Wettbewerbsgrundsatz herangezogen werden, da dieser bereits in dem ersten Vergabeverfahren bedient worden ist. Im Ergebnis ist daher die Entscheidung sehr zu begrüßen, da sie hier Rechtssicherheit einer bislang umstrittenen Frage schafft. Meines Erachtens muss jedoch der Auftraggeber zügig in das Verhandlungsverfahren wechseln. Denn je länger er zuwartet, desto weiter entfernt er sich von dem Vorverfahren und von einer Konnexität kann bald keine Rede mehr sein, da sich der Markt weiterentwickelt.

Praxistipp

Öffentliche Auftraggeber dürften nach Aufhebung eines offenen oder nicht offenen Verfahrens direkt mit einem Unternehmen in Verhandlungen treten und dieses beauftragen, wenn sich dieses Unternehmen an dem vorangegangenen Verfahren beteiligt hat, sein Teilnahmeantrag oder Angebot jedoch unannehmbar gewesen ist. Weitere Voraussetzung ist, dass die Vergabeunterlagen nicht wesentlich geändert werden und der verhandelte Preis dem Marktpreis und dem geschätzten Auftragswert nicht übersteigt. Der Auftraggeber ist beweispflichtig, was das Vorliegen der Voraussetzungen anbelangt. Außerdem hat er den Vorgang zu dokumentieren.

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Über Dr. Roderic Ortner [3]

Roderic Ortner ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht sowie Fachanwalt für IT-Recht. Er ist Partner in der Sozietät BHO Legal [4] in Köln und München. Roderic Ortner ist spezialisiert auf das Vergabe-, IT und Beihilferecht und berät hierin die Auftraggeber- und Bieterseite. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge zum Vergabe- und IT-Recht und hat bereits eine Vielzahl von Schulungen durchgeführt.

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