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Streitkräfte müssen dual-use Aurüstung ausschreiben (EuGH, Urteil v. 7.6.2012 – C-615/10)

EU-RechtGegenstände, die zwar eigens für militärische Zwecke Verwendung finden sollen, aber auch weitgehend gleichartige zivile Nutzungsmöglichkeiten bieten, unterfallen nur dann der vergaberechtlichen Ausnahmenbestimmung gemäß § 100 Abs. 6 Nr. 2 GWB i.V.m. Art. 346 Abs. 1 Buchst. b) AEUV, wenn die Güter aufgrund ihrer Eigenschaften – auch aufgrund von substantiellen Veränderungen – als speziell für militärische Zwecke konzipiert und entwickelt angesehen werden können. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in einem am 7.6.2012 – also heute – veröffentlichten Urteil entschieden (Rs.: C-615/10 „InsTiimi“).

Sachverhalt und Vorlagefrage

Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV war ein öffentlicher Auftrag über die Lieferung einer elektrotechnischen Drehtischanlage („tiltable turntable“), die im Rahmen der „elektronischen Kriegsführung“ bei der Simulation und Übung militärischer Einsätze verwendet werden sollte. Eine europaweite Bekanntmachung der ca. 1,6 Mio. Euro teuren Drehtischanlage unterblieb (Rdnr. 12 der Urteilsgründe). Dagegen hat ein nicht beauftragtes Ingenieurbüro („InsTiimi“) um Rechtsschutz nachgesucht. Es begründete sein Rechtsmittel damit, dass der Drehtisch eine technische Innovation aus dem zivilen Sektor und kein militärischer Ausrüstungsgegenstand sei. Die technische Umsetzung der Drehtischanlage beruhe auf einer Kombination frei erhältlicher Materialien, Komponenten und Systeme (Rdnr. 19 der Urteilsgründe).

Fraglich ist daher, ob Art. 10 der Vergaberichtlinie 2004/18/EG i.V.m. Art. Art. 346 Abs. 1 Buchst. b) AEUV (vormals: Art. 296 Abs. 1 Buchst. b) EGV) dahin auszulegen ist, dass ein öffentlicher Auftrag zur Beschaffung eines Gegenstandes im Verteidigungsbereich, der zwar eigens für militärische Zwecke verwendet werden soll, aber auch weitgehend gleichartige zivile Möglichkeiten der Nutzung bietet, aus dem Anwendungsbereich des Vergaberechts ausgenommen werden darf (Rdnr. 33 der Urteilsgründe).

Hintergrund der Entscheidung

Grundsätzlich gilt auch im Verteidigungsbereich das europäische Vergaberecht. Eine eng auszulegende Ausnahme besteht aber für Verteidigungsgüter, die eigens für militärische Zwecke bestimmt und zur Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen erforderlich sind (§ 100 Abs. 6 Nr. 2 GWB i.V.m. Art. 346 Abs. 1 Buchst. b AEUV). Die Ausnahmevorschrift erfordert deshalb das kumulative Vorliegen zweier Voraussetzungen:

(1.) Die Beschaffung muss die Erzeugung von Waffen, Munition oder Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen.

(2.) Die Beschaffung erfordert eine Ausnahme von der Anwendung des Vergaberechts, um die wesentlichen Sicherheitsinteressen des Unionstaates zu wahren.

Die erste Voraussetzung erfordert die Prüfung, ob der Beschaffungsgegenstand auf der europäischen Militärausrüstungsliste verzeichnet ist (vgl. Art. 346 Abs. 2 AEUV i.V.m. der Entscheidung des Rates 255/58 vom 15.4.1998, ABl. C 364 E, S. 85). Dort sind in fünfzehn Kategorien militärische Waren, wie etwa Waffen, Bomben, Panzer und Kriegsschiffe, aufgeführt. Hierbei handelt es sich um eine generische Liste, die aufgrund der fortschreitenden technischen Entwicklung auch neue Produkte umfassen kann (vgl. Erw.grd. 19 der Richtlinie 2009/81/EG). Die Erwähnung eines bestimmten Gegenstandes auf der vorgenannten Liste ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Anwendung der Ausnahmevorschrift. Vielmehr ist zusätzlich notwendig, dass der Beschaffungsgegenstand sowohl nach seiner konkreten, vom öffentlichen Auftraggeber definierten, subjektiven Verwendung, als auch nach seiner Konzeption und seinen Eigenschaften objektiv für spezifisch militärische Zwecke bestimmt ist. Ein militärischer Zweck liegt aber nicht automatisch schon dann vor, wenn z.B. die Bundeswehr oder andere europäische Streitkräfte beschaffen. Es ist auch nicht ausreichend, wenn es sich um Gegenstände handelt, die für eine militärische Verwendung lediglich geeignet sind, und somit möglicherweise militärisch eingesetzt werden (EuGH, Urteil vom 8.4.2008 – C-337/05 „Agusta“). Dies kann bspw. bei der Beschaffung von Hubschraubern der Fall sein, die für rein zivile Zwecke gedacht sind (z.B. Katastrophenschutz). Für ursprünglich zivile Zwecke dienende Gegenstände muss deshalb der Nachweis erbracht werden, dass sie nicht nur zu militärischen Zwecken genutzt werden sollen (dual-use Güter), sondern auch aufgrund ihrer Eigenschaften, etwa infolge substantieller Veränderungen, speziell für militärische Zwecke konzipiert und entwickelt wurden. Nur dann ist die erste Voraussetzung nach § 100 Abs. 6 Nr. 2 GWB i.V.m. Art. 346 Abs. 1 Buchst. b AEUV erfüllt.

Schließlich ist einem zweiten Schritt zu prüfen, ob der militärische Ausrüstungsgegenstand eine Abweichung vom europäischen Vergaberecht zur Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen erforderlich erscheinen lässt und ob dem Bedürfnis, diese wesentlichen Interessen zu wahren, nicht im Rahmen einer Ausschreibung Genüge getan werden kann (Rdnr. 45 der Urteilsgründe). So begründet bspw. ein Geheimhaltungsbedürfnis im Hinblick auf bestimmte militärische Informationen per se noch keine wesentlichen Sicherheitsinteressen (EuGH, Urteil vom 8.4.2008 – C-337/05 „Agusta“, Rdnr. 52). Die notwendigen Vorkehrungen zum Schutz sensibler Informationen können auch im Rahmen von Vergabeverfahren getroffen werden (Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 19.1.2012 – C-615/10 „InsTiimi“). Andere, vor allem wirtschaftliche und industriepolitische Interessen können für sich allein jedenfalls keine Ausnahme vom Vergaberecht begründen.

Deutsches VergabenetzwerkFazit

Die Entscheidung des EuGH verdeutlicht die besondere Verantwortung der unionstaatlichen Streitkräfte im Umgang mit der Ausnahmeregelung des Art. 346 Abs. 1 Buchst. b) AEUV. Bei der Beschaffung von militärischen Gütern bedarf es einer sorgfältigen, an den beiden oben skizzierten Kritierien orientierte Einzelfallprüfung, ob die Nichtanwendung des europäischen Vergaberechts gerechtfertigt ist oder nicht (KOM(2006) 779 endg., S. 8). Praktische Schwierigkeiten kann die Einzelfallprüfung vor allem bei zivil-militärischen Gegenständen („dual-use Güter“) und bei Kompensationsgeschäften („offsets“) bereiten. Nur bei einer engen Auslegung der Ausnahmevorschrift kann das Ziel des schrittweisen Aufbaus eines europäischen Marktes für Verteidigungsgüter erreicht werden.

Rechtsanwalt Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren eine Vielzahl von VOL/VOB/VOF/SektVO-Verfahren öffentlicher Auftraggeber von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Die Expertise wird durch zahlreiche Fachveröffentlichungen und einschlägige Vortragstätigkeiten bestätigt.

Schröder_Holger___17815Rechtsanwalt Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren eine Vielzahl von VOL/VOB/VOF/SektVO-Verfahren öffentlicher Auftraggeber von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.

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Über Holger Schröder

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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