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Aufklärungspflichten öffentlicher Auftraggeber bei unauskömmlichen und inhaltlich unklaren Angeboten (EuGH, Urteil v. 29.03.2012 – RS.C-599/10)

EU-RechtDer vergaberechtskonforme Umgang mit (vermutlich) nicht auskömmlich kalkulierten Angeboten stellt in den meisten Vergabeverfahren hohe Anforderungen an öffentliche Auftraggeber bei der Verfahrensgestaltung, der Angebotswertung sowie der Durchführung von Aufklärungsgesprächen. Dasselbe gilt für die Frage der Prüfungs- und Aufklärungspflichten in Bezug auf inhaltlich unklare Angebote. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in dieser Hinsicht mit Urteil vom 29. März 2012 (RS.C-599/10) zum einen entschieden, dass öffentliche Auftraggeber bei einem Angebot, das einen ungewöhnlich niedrigen Preis aufweist, verpflichtet ist, den Bieter schriftlich aufzufordern, dieses Angebot zu erläutern. Zum anderen hat der Gerichtshof festgestellt, dass öffentliche Auftraggeber nicht verpflichtet sind, ein ungenaues oder ein Angebot, das den in den Vergabeunterlagen enthaltenen technischen Spezifikationen nicht entspricht, aufzuklären oder gar zu vervollständigen.

Aufklärungspflicht bei Prüfung der Auskömmlichkeit

Im Ausgangspunkt seiner Entscheidung stellt der EuGH klar, dass eines der Hauptziele des Europäischen Vergaberechts die Gewährleistung des freien Dienstleistungsverkehrs und die Öffnung der nationalen Märkte für einen unverfälschten Wettbewerb in allen Mitgliedsstaaten ist. Dieses doppelte Ziel verfolgt das Recht der EU im Allgemeinen und das Europäische Vergaberecht im Besonderen durch die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Bieter und der sich daraus ergebenden Verpflichtung zu Transparenz.

Vor diesem Hintergrund gebietet Art. 55 der Vergabekoordinierungsrichtlinie (RL 2004/18/EG) öffentlichen Auftraggebern im Falle eines Angebots, das im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig zu sein scheint, vor Ablehnung dieses Angebots „schriftlich Aufklärung über die Einzelposten des Angebots [zu] verlangen, wo er dies für angezeigt hält.“

Der EuGH folgert aus diesen zwingend abgefassten Bestimmungen, dass der EU‑Gesetzgeber vom

„öffentlichen Auftraggeber verlangen wollte, dass er die Einzelposten der ungewöhnlich niedrigen Angebote überprüft, indem er ihn in diesem Zusammenhang dazu verpflichtet, die Bewerber zur Vorlage der erforderlichen Belege für die Seriosität dieser Angebote aufzufordern.“

Im Anschluss führt der EuGH präzisierend aus, dass Willkür nur verhindert und ein Wettbewerb zwischen den Unternehmen nur gewährleistet werden kann, wenn

„eine effektive kontradiktorische Erörterung zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und dem Bewerber zu einem zweckmäßigen Zeitpunkt im Verfahren der Prüfung von Angeboten stattfindet […].“

Keine Aufklärungspflicht bei inhaltlich unklaren Angeboten

In Bezug auf die zweite Vorlagefrage hatte der EuGH darüber zu befinden, welche Pflichten öffentliche Auftraggeber treffen, wenn das Angebot eines Bieters ungenau ist oder den in den Vergabeunterlagen vorgegebenen technischen Spezifikationen nicht entspricht.

Der EuGH weist in diesen Zusammenhang zunächst darauf hin, dass – anders als bei ungewöhnlich niedrigen Angeboten – die Vergabekoordinierungsrichtlinie keine Bestimmung enthält, die ausdrücklich regelte, ob der Auftraggeber zur Aufklärung verpflichtet ist oder nicht. Außerhalb des Verhandlungsverfahrens könnten nämlich einmal eingereichte Angebote grundsätzlich nicht mehr geändert werden, weder auf Betreiben des öffentlichen Auftraggebers noch des Bieters. Bei formstrengen Verfahren (Offenes Verfahren bzw. Öffentliche Ausschreibung; Nichtoffenes Verfahren bzw. Beschränkte Ausschreibung) stehen der Grundsatz der Gleichbehandlung und die sich daraus ergebende Verpflichtung zur Verfahrenstransparenz Verhandlungen zwischen Auftraggeber und Bieter entgegen. Der EuGH formuliert insoweit wörtlich:

„Dürfte der öffentliche Auftraggeber von einem Bewerber, dessen Angebot seiner Auffassung nach ungenau ist oder nicht in den Verdingungsunterlagen enthaltenen technischen Spezifikationen entspricht, Erläuterungen verlangen, könnte nämlich, wenn letztlich das Angebot dieses Bewerbers ausgewählt würde, der Eindruck entstehen, dass der öffentliche Auftraggeber dieses Angebot insgeheim ausgehandelt hat – zum Nachteil der anderen Bewerber und unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.“

Da sich aus anderen Grundsätzen des Europäischen Vergabe- und Gemeinschaftsrechts keine Verpflichtung ableiten lässt, mit den betreffenden Bietern Kontakt aufzunehmen, trifft öffentliche Auftraggeber bei inhaltlich unklaren Angeboten keine Verpflichtung zur Aufklärung. Hinzu kommt, dass die fehlende Klarheit eines Angebots ausschließlich aus der Sphäre der betreffenden Bieter herrührt.

Bemerkenswert ist jedoch die anschließende Feststellung des EuGH, öffentliche Auftragnehmer könnten sich bei der Ausübung ihres Ermessens dafür entscheiden, die Bieter zur Erläuterung ihres Angebots – und sogar zur inhaltlichen Klarstellung oder Berichtigung – aufzufordern. Die Richtlinie verbiete nämlich nicht, dass

„die Angebote ausnahmsweise in einzelnen Punkten berichtigt oder ergänzt werden, insbesondere wegen einer offensichtlich gebotenen bloßen Klarstellung oder zur Behebung offensichtlicher sachlicher Fehler – vorausgesetzt diese Änderung läuft nicht darauf hinaus, dass in Wirklichkeit ein neues Angebot eingereicht wird.“

Bei der Ausübung dieses Ermessens haben öffentliche Auftraggeber alle Bieter gleich und fair zu behandeln. Keinesfalls dürfe nach Auffassung des EuGH am Ende des Verfahrens bei der Auswahl der Angebote der Eindruck entstehen, dass die Aufforderung zur Erläuterung oder inhaltlichen Berichtigung den oder die Bewerber, an den bzw. an die sie gerichtet war, ungerechtfertig begünstigt oder benachteiligt hätte.

Deutsches VergabenetzwerkFazit und Praxishinweise

Die Entscheidung des EuGH enthält mehrere neue Facetten, die zum einen von öffentlichen Auftraggebern beachtet werden müssen und zum anderen auch Auswirkungen auf die nationale Rechtsprechung haben dürften. Die bislang herrschende Praxis ist davon ausgegangen, dass Angebote wegen eines nicht auskömmlich kalkulierten Preises nur ausgeschlossen werden können, wenn der Gesamtpreis wesentlich unter dem zu erwartenden Preis bzw. unter den Preisen der nächstplatzierten Bieter liegt. Ausgehend von der relevanten Bestimmung der Vergabekoordinierungsrichtlinie sind öffentliche Auftraggeber nach Auffassung des EuGH jedoch verpflichtet, die Einzelposten ungewöhnlich niedriger Angebote zu überprüfen. Kommt der Auftraggeber seiner Aufklärungspflicht nach, so ist der Bieter verpflichtet, die Seriosität (also die Auskömmlichkeit) seines Angebots in zweckdienlicher Weise darzulegen. Da der EuGH diese Aufklärungspflicht als Ausfluss der Grundsätze der Gleichbehandlung und Transparenz versteht, könnte sich außerdem eine Abkehr der bisherigen Rechtsprechung abzeichnen, wonach Wettbewerbern grundsätzlich kein subjektives Recht auf Ausschluss eines nicht auskömmlichen Angebots zusteht. Bislang geht die nationale vergaberechtliche Rechtsprechung nämlich davon aus, dass die Prüfung der Auskömmlichkeit allein den Auftraggeber schützt und sich damit nicht als „drittschützend“ darstellt.

Demgegenüber begründet das Vorliegen eines ungenauen oder den technischen Spezifaktionen der Ausschreibung nicht entsprechenden Angebots grundsätzlich keine Aufklärungspflicht. Hervorzuheben ist jedoch auch, dass öffentliche Auftraggeber im Rahmen ihres Ermessens Bieter zur Erläuterung ihres Angebots auffordern dürfen. Darüber hinaus soll es außerdem möglich sein, Angebote ausnahmsweise in einzelnen Punkten zu berichtigen oder zu ergänzen. Nach der Rechtsauffassung des EuGH kommen derartige Korrekturen insbesondere wegen einer offensichtlich gebotenen bloßen Klarstellung oder zur Behebung offensichtlicher sachlicher Fehler in Betracht.

martin_ottDer Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Dort berät und vertritt er insbesondere öffentliche Auftraggeber, aber auch Unternehmen, in allen Fragen des Vergaberechts, ein Schwerpunkt liegt hierbei im Dienstleistungsbereich. Mehr Informationen finden Sie in unserem Autorenverzeichnis.

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Über Dr. Martin Ott

Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW).

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