Sehr geehrter Herr Kollege Münch,

zu Ihrem Report aus München zu dem neuen liberaleren Umgang Ihres Oberlandesgerichtes mit der unverzüglichen Rüge, möchte ich einen herzlichen Gruß aus Rheinland-Pfalz übersenden und auf die hiesige Rechtsprechung aufmerksam machen. Als ich Ihren Report las, dachte ich nämlich an ein Telefonat, das ich dieser Tage mit dem Vorsitzenden der zweiten Vergabekammer Mainz, Herrn Dr. Peter, führte. Ich fragte den Vorsitzenden, ob es denn überhaupt noch Sinn mache, in meinem Schriftsatz Tinte auf den Angriff präkludierten „verzüglichen“ Vortrags zu verwenden (Stichwort: Europa).

Herr Dr. Peter erklärte mir, dass die 2. Vergabekammer Rheinland-Pfalz in der Tat § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB als europarechtswidrig nicht mehr anwendet. Er verwies auf zwei Beschlüsse aus dem Jahre 2010, in denen die Vergabekammer Mainz die Uniplex-Rechtsprechung des EuGH sofort aufgegriffen hat. Ich habe diese Beschlüsse der Vergabekammer nachgelesen und füge hier den maßgeblichen Textbaustein zu dem Thema einmal ein:

„Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrages steht nicht eine Verletzung der Rügeobliegenheit gern. § 107 Abs. 3 GWB entgegen. Insbesondere ist der Antragstellerin keine Verletzung des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB vorzuwerfen, nach der im Vergabeverfahren erkannte Vergaberechtsverstöße unverzüglich zu rügen sind. Von dieser Präklusionsregel kann aufgrund der Entscheidung des EuGH vom 28. Januar 2010 (Rs. C-406/08) derzeit kein Gebrauch gemacht werden (so im Ergebnis: VK Hamburg, Beschluss vom 07.04.2010, VK BSU 2/10 u. 3/10, zit. nach Eydner, ibr-online, Werkstatt-Beitrag vom 14.04.2010; Summa in: jurisPK-VergR, 2. Auflage, § 107 GWB Rdn. 136.4; Krohn, NZBau 2010, 186, 188; Weyand, ibr-online, Vergaberecht 2009, § 107 GWB Rdn. 3054/5). Der EuGH hat in dem o. g. Urteil entschieden, dass es den Mitgliedstaaten zwar unbenommen ist, Fristen für die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens festzulegen, es aber mit dem Gebot eines effizienten Rechtsschutzes nicht zu vereinbaren sei, wenn der Zugang zu einem Nachprüfungsverfahren von der Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffes wie „unverzüglich“ durch ein Gericht abhängt (vgl. Summa in: jurisPK-VergR, 2. Auflage, § 107 GWB Rdn. 136.1). Dem stehe Artikel 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (Rechtsmittelrichtlinie) entgegen. Die Entscheidung betraf zwar eine Vorschrift des englischen Rechts, nach der ein Nachprüfungsverfahren „unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten“ eingeleitet werden muss. Trotzdem sind die tragenden Grundsätze auf das deutsche Recht in Gestalt des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB übertragbar. Es handelt sich bei dieser Vorschrift um eine verfahrensrechtliche Norm. Die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags knüpft an die Rechtzeitigkeit der Rüge an. Ob eine Rüge rechtzeitig erhoben wurde und damit der Zugang zum Nachprüfungsverfahren eröffnet ist, entscheidet – wie bei der englischen Norm – die Nachprüfungsbehörde in Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs „unverzüglich“ (Summa in: jurisPK VergR, 2. Auflage, § 107 Rdn. 136.2). Ob die Präklusion an die verspätete Verfahrenseinleitung oder die verspätete Erhebung einer vorhergehenden Rüge anknüpft, ist unter dem Gesichtspunkt der Effektivität des Rechtsschutzes, auf dem der EuGH maßgeblich abstellt, ohne Belang (Krohn, NZBau 2010, 186, 187). Unerheblich ist auch, dass der Begriff der Unverzüglichkeit im deutschen Recht anders als im englischen legaldefiniert und von der Rechtsprechung konkretisiert worden ist (anders dagegen: VK Bund, Beschluss vom 05.03.2010, VK 1 – 16/10; Jasper/Neven-Daroussis, Behördenspiegel März 2010, 20). Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts darf § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB nicht mehr angewandt werden (Krohn, NZBau 2010, 186, 188). Sofern eine innerstaatliche Bestimmung nicht im Einklang mit der Rechtsmittelrichtlinie ausgelegt werden kann, kann die entsprechende nationale Vorschrift keine Verwendung mehr finden (vgl. EuGH, Urteil vom 28.01.2010, Rs. C-406/08). “

VK Rheinland-Pfalz, Beschlüsse vom 20.04.2010, VK 2 – 7 / 10 – (Bieter obsiegt); VK 2 – 9 / 10 – (Bieter obsiegt) in: VERIS

Herr Summa vom Oberlandesgericht Koblenz hat seine Meinung dazu in dem von der VK Rheinland-Pfalz seinerzeit herangezogenen juris-Praxiskommentar Vergaberecht, 2. Auflage in der aktuellen 3. Auflage übrigens nicht geändert. Insofern spricht einiges dafür, dass das Oberlandesgericht Koblenz § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB nicht mehr anwenden wird. Soweit ich das recherchieren konnte, hat der hiesige Senat bislang noch keinen entscheidungserheblichen Fall erhalten. Er deutete aber in einem Beschluss aus dem Jahre 2010 schon einmal in einem obiter dictum an:

„Erlangt ein Wettbewerbsteilnehmer an einem Freitagnachmittag Kenntnis von einem Vergaberechtsverstoß, ist eine Rüge, die am nächsten Arbeitstag beim Auftraggeber eingeht, rechtzeitig im Sinne des § 107 Abs. 3 Satz Nr. 1 GWB. Im Übrigen spricht viel dafür, dass diese Präklusionsnorm aufgrund des Urteils des EuGH vom 28. Januar 2010 (C-406/08) nicht mehr anwendbar ist.“

OLG Koblenz, Beschluss vom 26.05.2010, 1 Verg 2 / 10 – (Bieter obsiegt) in: VERIS

Wenn man sich also die von Ihnen referierte neue Rechtsprechung des OLG München anschaut und dazu die hiesigen Tendenzen am Mittelrhein OLG Koblenz hinzurechnet – im Gegensatz zu den anderen Obergerichten, könnte die Sache auf eine Divergenzvorlage zum BGH zulaufen.

Viele Grüße aus Koblenz
C.Schwabe

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