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Alternative zur vergaberechtlichen Beschaffung von Flüchtlingsunterkünften – zur öffentlich-rechtlichen Beschlagnahme von Unterkünften

Die Unterbringung von Flüchtlingen ist eine „Jahrhundertaufgabe“. Städte und Gemeinden sehen sich in der täglichen Praxis dieser Aufgabe gegenüber, die auch rechtlich kaum zu unterschätzende Schwierigkeiten mit sich bringt. Insbesondere die Beschaffung von Wohnraum für Flüchtlinge ist eine der dringendsten Fragen der vergabe- und verwaltungsrechtlichen Praxis. Der Beitrag möchte zeigen, welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen, und ob sich diese gegebenenfalls auch zwangsweise durchsetzen lassen.

A.

Die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen ist einer der aktuellen Brennpunkte des Vergaberechts im Jahr 2015 (vgl. Beiträge: Vergabeblog.de vom 13/10/2015, Nr. 23784 [1] und Vergabeblog.de vom 14/10/2015, Nr. 23792 [2]). Während zunächst primär die Beschaffung und Bereitstellung von Flüchtlingsunterkünften im Fokus des Vergaberechts stand, stellen in der Zwischenzeit auch die Beschaffung von Dienst- oder Versorgungsleistungen die zuständigen Körperschaften vor erhebliche Herausforderungen. Schnelles Handeln ist gefordert – und dies im Einklang mit dem geltenden Vergabe- und Haushaltsrecht. Zur Beschleunigung der erforderlichen Beschaffungen sieht das Vergaberecht beschleunigte Verfahren und sonstige Verfahrenserleichterungen vor (vgl. Rundschreiben des BMWI zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen vom 24.08.2015). Einige Bundesländer haben in der Zwischenzeit weitere Erleichterungen durch den Erlass bzw. die Anpassung entsprechender Verwaltungsvorschriften geschaffen (vgl. Vergabeblog vom 04.08.2015).

Vergaberecht ist Beschaffungsrecht. Mit der Durchführung von Vergabe- oder Beschaffungsverfahren kommen die Körperschaften zur Bewältigung der Aufgaben nur weiter, wenn die benötigten Waren und Dienstleistungen auf den relevanten Märkten verfügbar sind und freiwillig angeboten werden. Insbesondere im Bereich des Wohnraumes ist dies in vielen Fällen nicht mehr der Fall. Viele Körperschaften sind deshalb aufgrund der zunehmenden Anzahl von Flüchtlingen gezwungen, alternative Lösungsmöglichkeiten zu prüfen: die „Wohnraumbeschaffung“ über polizeirechtliche Mittel.

DVNW_Mitglied [3]

B.

Daher bietet sich eine zuletzt immer häufiger diskutierte gegebenenfalls auch zwangsweise Einweisung von Flüchtlingen in privaten oder öffentlichen Wohnraum an. In Betracht kommt insoweit, dem Problem der Wohnraumbeschaffung mit polizeirechtlichen Mitteln zu begegnen.

Dabei ist zu beachten, dass ein Rückgriff auf die allgemeinen Polizeigesetze der Länder nur dort möglich ist, wo es an einer spezielleren gesetzlichen Regelung fehlt. Insofern sind zunächst bestehende Flüchtlingsaufnahmegesetze (kurz: FlüAGe) der Länder und neue Regelungen der Wohnraumbeschlagnahme (wie z.B. Hamburg) auf eine mögliche Regelung zur zwangsweisen Einweisung zu untersuchen. Erst wenn festgestellt werden kann, dass keine spezielleren Ermächtigungsgrundlagen eingreifen, kann auf das allgemeine Polizeirecht zurückgegriffen werden.

Nach den Polizeigesetzen der Länder kann auch die Beschlagnahme von privatem Wohnraum und die anschließende Einweisung von Flüchtlingen grundsätzlich zulässig sein, wenn die Gefahr der Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung besteht (vgl. für Baden-Württemberg § 33 Abs. 1 PolG BW i. V. m. § 9 PolG BW). Die drohende Obdachlosigkeit einer Person ist seit langem als Gefahr bzw. Störung für die öffentliche Sicherheit anerkannt.

Problematisch ist allerdings die Inanspruchnahme des Eigentümers. Der Eigentümer hat die drohende Obdachlosigkeit weder durch sein Verhalten verursacht, noch geht sie von einem Gegenstand in seinem Besitz aus. Die Eigenschaft des Eigentümers als „Nicht-Störer“ ist im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung sorgfältig zu prüfen und an den geschützten Rechtspositionen des Eigentümers aus Art. 14 GG zu messen. Insbesondere bei der Frage, ob die zwangsweise Beschlagnahmung erforderlich ist, ist daher im Einzelfall eine intensive tatsächlich wie rechtliche Prüfung angebracht. Dabei könnte sich insbesondere eine Anmietung der gegenständlichen Immobilien als gleich wirksames, aber für den Eigentümer weniger belastendes und damit letztlich verhältnismäßiges Mittel darstellen.

Noch weitgehend ungeklärt ist dabei, ob die Kommune sprichwörtlich um jeden Preis anmieten muss oder ob sie sich mittels der Beschlagnahme einem unangebracht hohen Mietzins entziehen kann. Angesichts der Dringlichkeit der Flüchtlingsunterbringung ist absehbar, dass manche Privatpersonen den Städten und Gemeinden den benötigten Wohnraum nur zu überhöhten Preisen anbieten, die insbesondere die Schwelle des Mietwuchers nach § 138 Abs. 2 BGB bisweilen erreichen dürften. Es stellt sich die Frage: Wie weit muss die Beschlagnahmebehörde auf (überzogene) Mietforderungen eingehen? Wann können die Verhandlungen über den Mietvertrag als gescheitert angesehen und kann zur Beschlagnahme geschritten werden?

Daneben handelt es sich bei der Beschlagnahme von Wohnraum nach den Polizeigesetzen der Länder um einen besonders intensiven Eingriff in die Rechtsstellung des Betroffenen, weshalb die Beschlagnahme von Wohnraum grundsätzlich nicht unbegrenzt zulässig ist (vgl. für Baden-Württemberg die Höchstdauer von 6 Monaten nach § 33 Abs. 4 S. 2 PolG BW). Die meisten Städten und Gemeinden werden hinsichtlich des Wohnraums an einer längeren Nutzung interessiert sein, weshalb fraglich ist, ob eine gesetzlich geregelte oder richterrechtlich entwickelte maximale Beschlagnahmefrist den Bedürfnissen der Praxis angepasst werden kann. Mit zunehmender Dauer steigen die Anforderungen an die Beschlagnahme, weshalb es im jeweiligen Einzelfall einer guten tatsächlichen wie rechtlichen Argumentation für deren Fortdauer bedarf.

Daneben ist weitgehend ungeklärt, unter welchen Umständen Wohnraum in öffentlichen Zwecken gewidmeten Gebäuden beschlagnahmt werden kann. In dieser Konstellation könnten sich Städte und Gemeinden selbst als Polizeipflichtige wiederfinden. Stehen beispielsweise kommunalen Aufgaben gewidmete Immobilien wie Turn- oder Festhallen im Eigentum der Kommune, sind diese für die übergeordnete Gebietskörperschaft naheliegende Objekte für die Unterbringung von Flüchtlingen. Die Frage, ob auch in öffentliche Einrichtungen außerhalb der jeweiligen Widmung eine Zwangseinweisung zulässig ist und vorrangig vor der Beschlagnahme von privatem Wohnraum erfolgen muss, dürfte angesichts der Dimension der Flüchtlingskrise ebenfalls an Aktualität gewinnen.

Schließlich stellt sich auf Rechtsfolgenseite die Frage nach einer Entschädigung. Grundsätzlich wird dem Adressaten einer Beschlagnahme auf der sekundären Ebene der Maßnahme eine Entschädigung zugebilligt (vgl. für Baden-Württemberg § 55 Abs. 1 PolG). Ob diese Entschädigung allerdings nur das Sonderopfer des Eigentümers kompensiert oder auch entgangenen Gewinn umfasst, ist im Einzelfall zu prüfen.

DVNW_Mitglied [3]

C.

Die zwangsweise Einweisung von Flüchtlingen in privaten oder öffentlichen Wohnraum stellt sich momentan als einer der dringlichsten Bereiche des Vergabe- und Verwaltungsrecht dar. Angesichts vieler ungelöster Fragen bleibt abzuwarten, welche gerichtliche Entwicklung die Thematik nehmen wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass angesichts der gravierenden Notlage die bestehende polizeirechtliche Rechtsdogmatik im Bereich der Flüchtlingsunterbringung zumindest teilweise modifiziert wird.

Kontribution

Der Beitrag von Dr. Thomas Würtenberger wurde in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen, Herrn  Tobias Kröger verfasst.

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Über Tobias Kröger [4]

Der Autor Tobias Kröger ist Rechtsanwalt der Sozietät wuertenberger Partnerschaft von Rechtsanwälten [5], Stuttgart. Herr Kröger berät und vertritt insbesondere die öffentliche Hand im öffentlichen Recht. Seine Schwerpunkte liegen im Bau- und Immobilienrecht, Sicherheitsrecht und Vergaberecht.

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Über Dr. Thomas Würtenberger, LL.M. [6]

Der Autor Dr. Thomas Würtenberger, LL.M. (Vanderbilt) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht der Sozietät wuertenberger Partnerschaft von Rechtsanwälten [5], Stuttgart. Herr Dr. Würtenberger berät und vertritt sowohl Unternehmen als auch die öffentliche Hand im öffentlichen Recht. Seine Schwerpunkte liegen im Bau- und Immobilienrecht, Verfassungs- und Europarecht und Verwaltungsrecht. Der Branchenschwerpunkt liegt auf den regulierten Industrien (insbesondere Verkehr, Gesundheit, Energie und Glücksspiel).

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