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Haftung von Führungskräften bzw. leitenden Angestellten bei Vergabeverstößen

In dem Beitrag „Vergabefehler in Beschäftigungsverhältnissen und ihre Folgen für den Mitarbeiter“ (Vergabeblog.de vom 20/02/2020, Nr. 43051 [1]) ist bereits beleuchtet worden, dass für Beschäftigte, die mit der Durchführung von Vergabeverfahren betraut sind, die Gefahr der Haftung bei Vergabefehlern besteht. Wie verhält es sich aber, wenn neben den unmittelbar mit der Durchführung von Vergabeverfahren Beschäftigten darüber hinaus deren Führungskräfte bzw. leitende Angestellte mittelbar mit den Vergabeverfahren sowie Vergabeverstößen in Kontakt kommen?

Bereits besprochen wurde die praktische Relevanz von Vergabefehlern und ihren Folgen jedoch im Schwerpunkt ausschließlich für diejenigen Beschäftigten, die unmittelbar, selbst und persönlich an der wesentlichen Durchführung der Vergabeverfahren beteiligt sind. In diesem Beitrag soll beleuchtet werden, ob auch den Personenkreis der Führungskräfte eine Verantwortung bzw. Haftung treffen kann.

I. Begriff der Führungskraft / des leitenden Angestellten

Unter einer Führungskraft wird in der Führungslehre grundsätzlich eine Person verstanden, die in einem Wirtschaftssubjekt (Unternehmen, Personenvereinigungen, öffentliche Verwaltung) mit Aufgaben der Personalführung betraut ist. Einer solchen leitenden Führungskraft steht die Befugnis zu, im Rahmen des Direktionsrechts mittels Weisung Aufgabenträgern ausführende Tätigkeiten vorzuschreiben. Durch ihre Führungskompetenz übernehmen sie Fremdverantwortung und delegieren Durchführungskompetenzen. Zu den Führungsaufgaben einer Führungskraft gehören Organisation, Planung, Zielsetzung, Entscheidung, Koordination, Information, Mitarbeiterbewertung und Kontrolle (Altfelder/Bartels/Horn/Metze: Lexikon der Unternehmensführung, 1973, S. 83).

Einen Teil von Führungskräften nach obigem Verständnis bilden leitende Angestellte. Ein einheitlicher rechtlicher Begriff des leitenden Angestellten existiert nicht. Ein Leitbild des leitenden Angestellten im Rechtssinne ist § 5 Abs. 3 S. 2 BetrVG samt begriffsbildender Kriterien zu entnehmen. Konsens in höchstrichterlicher Rechtsprechung und Literatur besteht insoweit, dass leitender Angestellter nach § 5 Abs. 3 S. 2 BetrVG nur derjenige ist, dem unternehmerische (Teil)-Aufgaben übertragen sind und der dadurch unternehmerische Führungsaufgaben wahrnimmt. Der Gesetzgeber definiert in anderen Gesetzen mehrfach den Begriff des leitenden Angestellten durch Verweisung auf § 5 Abs. 3 BetrVG. Auch der kündigungsschutzrechtliche Begriff des leitenden Angestellten setzt – bei allen Unterschieden – die Übertragung und Wahrnehmung unternehmerischer Teilaufgaben bzw. -funktionen voraus. Damit unternehmerische Führungsaufgaben („spezifische unternehmerische Teilaufgaben”) iSd. ständigen Rechtsprechung des BAG zu § 5 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 BetrVG gegeben sind, muss der Angestellte eine für die Verwirklichung des Unternehmensziels bedeutsame Schlüsselposition innehaben, die ihn in die Nähe der Unternehmensleitung rückt (vgl. BAG vom 11.01.1995, Az. 7 ABR 33/94; BAG vom 25.10.2001, Az. 2 AZR 358/00).

Das heißt, Führungskräfte bzw. leitende Angestellte können grundsätzlich Mitglieder von Vorständen, von Aufsichtsräten, Verwaltungsräten, Geschäftsführer und andere Organmitglieder, aber auch Bürgermeister, Landräte, Leiter in Abteilungen, Referaten, Dezernaten, Gruppen und Teams sein, wobei die Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit genießen soll. In jedem konkreten Einzelfall muss das begriffliche Vorliegen einer Führungskraft bzw. eines leitenden Angestellten geprüft und abhängig von der Struktur des jeweiligen Auftraggebers sowie der Funktion der jeweiligen Person beurteilt werden.

II. Grundsätze der Haftung

Eine Haftung von Führungskräften bzw. leitenden Angestellten für Vergabeverstöße kann sich grundsätzlich zunächst, insbesondere für Organe, unmittelbar aus spezialgesetzlichen Regelungen wie dem AktG, GmbHG, aber auch aus §§ 280, 823, 831 BGB, § 14 StGB, § 30 OWiG ergeben, wobei besondere Sorgfaltsmaßstäbe des ordentlichen Kaufmanns bzw. der Business Judgement Rule und ein Organisationsverschulden eine Rolle spielen können.

Führungskräfte sind im Regelfall nicht an der Durchführung von Vergabeverfahren beteiligt, sodass Vergabeverstöße nicht unmittelbar durch sie verursacht werden und eine unmittelbare Haftung regelmäßig ausscheidet. Es bedarf daher einer Haftung aus mittelbarer Zurechnung. Denkbar und mit folgenden Fragestellungen verbunden wäre eine solche mittelbare Zurechnung sowohl auf Seiten der öffentlichen Auftraggeber, als auch auf Seiten von Bieterunternehmen oder bei beratenden Dritten:.

1. Vorstand, Aufsichtsrat, Geschäftsführer

Im Rahmen der Haftung dieser Organe bzw. Organmitglieder und des entsprechenden Sorgfaltsmaßstabs des ordentlichen Kaufmanns existiert die so genannte Business Judgement Rule, die in Verbindung mit Vergabeverstößen relevant werden kann.

Die Business Judgement Rule beschreibt den Umfang des unternehmerischen Entscheidungsspielraums insbesondere von Vorständen und Geschäftsführern, der nicht gerichtlich überprüfbar ist. Danach haften Vorstände und Geschäftsführer dann nicht für negative Folgen unternehmerischer Entscheidungen, wenn die Entscheidung auf Grundlage angemessener Informationen, ohne Berücksichtigung sachfremder Interessen, zum Wohl der Gesellschaft und in gutem Glauben gefasst wurde. Eine Vielzahl gesetzlicher Regelungen ist Ausfluss dieses Sorgfaltsmaßstabs (vgl. Spindler, in: MüKo, § 93 AktG, Rn. 43 ff.).

Je nach Rechtsform des Unternehmens folgen sie aus der Leitungs- und Organisationsverantwortung, bei der Aktiengesellschaft aus den §§ 76, 93, 91, 111, 116 AktG oder bei der GmbH aus §§ 43 GmbHG, 130 Abs. 1 OWiG.

Der Vorstand hat für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und wirkt auf deren Beachtung durch die Konzerneinheiten hin. Der Vorstand hat gemäß § 91 Abs. 2 AktG geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit Entwicklungen, die den Fortbestand der Gesellschaft gefährden, früh erkannt werden. Die Vorstandspflichten ergeben sich daneben auch aus § 93 I 1 AktG, wonach die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden haben. Das Ausmaß der Aufsichtspflicht selbst wiederum hängt regelmäßig von den Umständen des Einzelfalls ab. So sind auf der einen Seite nur die Aufsichtsmaßnahmen zu treffen, die möglich, zumutbar und insbesondere auch im Verhältnis zu den Beaufsichtigten rechtmäßig sind. Auf der anderen Seite setzt die Pflicht nicht erst dann ein, wenn Verstöße bereits festgestellt worden sind, da deren Verhinderung gerade Sinn und Zweck der Aufsicht ist. Zu den gebotenen Aufsichtsmaßnahmen zählt daher nicht nur die sorgfältige Auswahl des betreffenden Personals, sondern gleichermaßen auch die stichprobenartige, überraschende Kontrolle der Mitarbeiter. Eine gesteigerte Aufsichtspflicht besteht jedenfalls dann, wenn bereits in der Vergangenheit Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind (vgl. Schulz, Compliance in und für öffentliche(n) Vergabeverfahren, CCZ 2014, 126); Kapp, Gärtner: Die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat bei Verstößen gegen das Kartellrecht, CCZ 2009, 168).

Gleiche Grundsätze gelten gemäß § 43 GmbHG für den Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Auch Geschäftsführer haben in den Angelegenheiten der Gesellschaft die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns anzuwenden. Die Geschäftsführer, die diese Obliegenheiten verletzen, haften der Gesellschaft solidarisch für den entstandenen Schaden (vgl. BGH, Urteil vom 04.11.2002, Az. II ZR 224/00).

Der Aufsichtsrat oder bzw. Verwaltungsrat hat die leitenden unternehmerischen Entscheidungen des Vorstands auf seine Zweckmäßigkeit, seine Rechtmäßigkeit sowie Wirtschaftlichkeit zu überprüfen. Dies beinhaltet sowohl eine präventive Kontrolle als auch eine vergangenheitsbezogene Prüfung.

2. Bürgermeister, Landrat

Die (strafrechtliche) Haftung des Bürgermeisters bei Vergabeverstößen stand zuletzt sogar vor dem BGH auf dem Prüfstand (vgl. BGH, Beschluss vom 08.01.2020, Az. 5 StR 366/19). Gegenüber der Gemeinde kann eine Verantwortlichkeit nach den jeweils geltenden kommunalrechtlichen Vorschriften eintreten, aber auch § 839 BGB, Art. 34 Abs. 1 GG können in Bezug auf Schadenersatzansprüche zum Zuge kommen. Eine Gemeinde hat einen Anspruch auf Schadensersatz gegen den Bürgermeister, wenn dieser seine Dienstpflichten während der Amtszeit verletzt hat (vgl. OVG Magdeburg, Beschlüsse vom 31.07.2019, Az. 1 L 68/19; 1 L 69/19; 1 L 70/19; VG Neustadt, Urteil vom 22.06.2022, Az. 1 K 507/18). Mehr als nur vergleichbar dürfte sich die Konstellation für einen Landrat als Leiter der Kreisverwaltung darstellen.

3. Sonstige Führungskräfte

Über die genannten Vorstände, Aufsichtsräte, Geschäftsführer, Bürgermeister und Landräte hinaus können weitere Personen in (auch angestellten) Leitungspositionen in Bezug auf eine Haftung als nicht unmittelbar handelnde Führungskräfte wie Leiter in Abteilungen, Referaten, Dezernaten, Gruppen und Teams in Betracht kommen.

Im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Business Judgement Rule im Rahmen der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns als speziellem Sorgfaltsmaßstab ist jedoch festzustellen, dass nicht jede Führungskraft nach dem oben genannten Begriff diesen unternehmerischen „Haftungsfreiraum“ genießt, sondern eben nur wie ausgeführt die leitenden Angestellten, die zumindest teilweise unternehmerische Funktionen ausüben. Kann eine solche unternehmerische Funktion bzw. Schlüsselposition im Sinne des § 5 Abs. 3 S. 2 BetrVG im Einzelfall bejaht werden, so gelten für die Haftung die gleichen Maßstäbe der Business Judgement Rule wie bei Vorständen, Aufsichtsräten und Geschäftsführern (vgl. Bürkle, Fecker: Business Judgment Rule: Unternehmerischer Haftungsfreiraum für leitende Angestellte NZA 2007, 589).

Für übrige Führungskräfte ohne solche leitenden Funktionen iSd. § 5 Abs. 3 S. 2 BetrVG kann jedoch als mittelbar Handelnde im Übrigen eine Haftung nach den Grundsätzen des Organisationsverschuldens ohne die Privilegierung der Business Judgement Rule in Betracht kommen.

Das Organisationsverschulden ist eine Verschuldensform im Haftungsrecht. Anknüpfungspunkt für dieses Verschulden ist eine nicht ordnungsgemäße Organisation desjenigen, der für eine ordnungsgemäße Organisation verantwortlich ist. Rechtlich kann sich diese aus §§ 280, 823, 831 BGB, § 31 OWiG ergeben. Die Ursachen für ein Organisationsverschulden sind vielfältig und können in mangelhafter Organisation und Kontrolle, in fehlerhaften Prozessen, Abläufen, Kommunikationswegen, internen Leitfäden, Arbeitsanweisungen, aber ebenso in fehlenden personellen Ressourcen, mangelnder erforderlicher Infrastruktur liegen.

III. Praktische Fallbeispiele

IV. Fazit

Vergabepflichten sind ernst zu nehmen und nicht als notwendiges Übel abzutun. Nicht nur unmittelbar, selbst und persönlich mit der Vorbereitung und Durchführung von Vergabeverfahren betraute Mitarbeiter bzw. Beschäftigte können Vergabefehler teuer zu stehen kommen, sondern ebenfalls im Wesentlichen nur mittelbar für die Vergabekonformität verantwortliche Führungskräfte; zuvörderst Organe bzw. Organmitglieder von juristischen Personen. Daher sind durch den öffentlichen Auftraggeber entsprechende Maßnahmen zur Sicherstellung und Gewährleistung der Rechtskonformität von Vergabeverfahren im eigenen Hause zu treffen. Sie haben qualifiziertes „Vergabe-Personal“ vorzuhalten, interne Vergabeprozesse samt Leitfäden, Arbeitsanweisungen und Checklisten zu implementieren. Das Personal ist vergaberechtlich zu sensibilisieren, zu schulen, fortzubilden und eine Vergabekultur ist im Haus zu fördern bzw. zu schaffen, die über die „bloße“ Einhaltung des Vergaberechts und die Vermeidung von Vergabefehler eine „ehrliche“ Akzeptanz begründet, dass öffentliche Vergabeverfahren eine Vielzahl von Vorteilen für Wettbewerb, Gleichberechtigung, Transparenz, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit bringen.

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Über Michael Pilarski [2]

Der Autor Michael Pilarski ist als Volljurist bei der Investitions- und Förderbank des Landes Niedersachsen – NBank – [3] in Hannover tätig. Als Prüfer, insbesondere der Vergaberechtsstelle, lag sein Schwerpunkt mehrere Jahre in den Bereichen Zuwendungs- und Vergaberecht. Er hat die Einhaltung des Zuwendungs- und Vergaberechts durch private und öffentliche Auftraggeber, die Förderungen aus öffentlichen Mitteln erhalten, geprüft und Zuwendungsempfänger bei zuwendungs- und vergaberechtlichen Fragestellungen begleitet. Nunmehr ist er in der Rechtsabteilung der NBank in den Bereichen Vergabe-, Vertrags- sowie Auslagerungsmanagement beschäftigt. Darüber hinaus sitzt er der Vergabekammer Niedersachsen beim Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr in Lüneburg bei, ist zugelassener Rechtsanwalt und übernimmt Referententätigkeiten sowie Schulungen im Zuwendungs- und Vergaberecht.

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