Vergabeblog

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EU-Vergaberechtsreform: Ausschreibungspflicht bei Vertragsänderungen

ParagraphDie EU-Kommission hat Ende 2011 ihren Vorschlag für die im Rahmen der europäischen Vergaberechtsreform geplante Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe veröffentlicht (vgl. KOM (2011) 896 endgültig – 2011/0438 (COD) vom 20.12.2011). Der Vorschlag sieht in Art. 72 (vgl. auch Art. 82 des Vorschlags für die Richtlinie über die Vergabe von Aufträgen im Sektorenbereich und Art. 42 des Vorschlags für die Richtlinie über die Konzessionsvergabe) eine Regelung darüber vor, in welchen Fällen die Änderung eines Auftrags während der Laufzeit des Vertrages als Neuvergabe gilt und die Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens erfordert. Diese vorgesehene Vorschrift wirft schon jetzt einige Fragen auf. So wird befürchtet, die Regelung mache so starre Vorgaben, dass eine Vielzahl von insb. Bauprojekten, bei denen Änderungen des Auftrags während der Durchführung in der Praxis besonders relevant sind, aufgrund der Pflicht zur Neuausschreibung zeit- und kostenintensiv blockiert werden.

Nach derzeitiger Rechtslage wird die Frage, wann eine Auftragsänderung Neuausschreibungspflichten auslöst, mithilfe der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) beantwortet. In der „pressetext“-Entscheidung (Urt. v. 19.06.2008 – C-454/06) hat der EuGH für Dienstleistungsaufträge definiert, in welchen Fällen die Änderung eines öffentlichen Auftrags während der Durchführung eine Pflicht zur Neuausschreibung verursacht. Danach erfordern Änderungen der Vertragsbestimmungen eine Neuvergabe, wenn sie wesentlich andere Merkmale aufweisen als der ursprüngliche Auftrag und damit den Willen der Parteien zur Neuverhandlung wesentlicher Bestimmungen des Vertrags erkennen lassen (Rd. 34 der Entscheidung). Die Vertragsänderung könne als wesentlich angesehen werden,

· wenn sie Bedingungen einführt, die die Zulassung anderer als der ursprünglich zugelassenen Bieter oder die Annahme eines anderen als des ursprünglich angenommenen Angebots erlaubt hätten, wenn sie Gegenstand des ursprünglichen Vergabeverfahrens gewesen wären (Rd. 35),

· wenn sie den Auftrag in großem Umfang auf ursprünglich nicht vorgesehene Dienstleistungen erweitert (Rd. 36) oder

· wenn sie das wirtschaftliche Gleichgewicht des Vertrags in einer im ursprünglichen Auftrag nicht vorgesehenen Weise zugunsten des Auftragnehmers ändert (Rd. 37).

Diese Kriterien wurden von den nationalen Vergabekammern und Gerichten angewandt und mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen weiterentwickelt.

Art. 72 des Vorschlags der Europäischen Kommission für die Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe enthält nun in Abs. 2 eine nahezu wortwörtliche Kodifizierung der vorgenannten, vom EuGH entwickelten Kriterien. Die nachfolgenden Absätze des Art. 72 bieten Erklärungen dazu, wann eine Änderung gerade nicht als wesentlich in diesem Sinne zu betrachten ist.

Dabei hat insbesondere folgender Art. 72 Abs. 4 bereits jetzt besondere Beachtung gefunden:

„Kann der Wert einer Änderung in Geldwert ausgedrückt werden, ist eine Änderung nicht als wesentlich im Sinne von Absatz 1 anzusehen, wenn ihr Wert nicht die in Artikel 4 festgelegten Schwellenwerte überschreitet und weniger als 5 % des ursprünglichen Auftragspreises beträgt, vorausgesetzt, dass sich aufgrund der Änderung nicht der Gesamtcharakter des Auftrags verändert. Im Falle mehrerer aufeinanderfolgender Änderungen wird deren Wert auf der Grundlage des kumulierten Werts der aufeinanderfolgenden Änderungen bestimmt.“

Der Vorschlag des Rates der Europäischen Union vom 30.11.2012 (Interinstitutionelles Dossier: 2011/0438 (COD), „Kompromisstext“ des Vorsitzes, 16725/1/12 REV 1) sieht – neben weiteren kleineren Änderungen im Wortlaut – dagegen statt eines Wertes von weniger als 5 % bei Bauaufträgen weniger als 15 % und bei Dienstleistungs- und Lieferaufträgen weniger als 10 % des ursprünglichen Auftragswerts vor.

Um dem Auftraggeber eine Loslösung vom ursprünglichen Vertrag zu ermöglichen, regelt Art. 73 des Richtlinienvorschlags eine Pflicht der Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass im nationalen Recht für den Auftraggeber eine Kündigungsmöglichkeit für Fälle wesentlicher Vertragsänderungen geschaffen wird.

Die Festlegung einer starren Quote wie sie in Art. 72 Abs. 4 vorgesehen ist, mag zu einem vermeintlichen „Mehr an Rechtsklarheit“ führen und zu sorgfältiger und vorausschauender Planung und Vorbereitung von Projekten und Ausschreibungen disziplinieren. Sie steht aber auch in einem Spannungsfeld mit der insbesondere bauvertraglichen Praxis, tatsächlich notwendige Auftragsänderungen im Sinne des Projektfortschritts im bestehenden Vertragsverhältnis vorzunehmen.

Einer starren, ausnahmslosen Anwendung der Prozentgrenzenregelung stehen jedenfalls bereits jetzt zwei maßgebliche Argumente entgegen: Zum einen formuliert die Vorschrift, bis zu welchem Wert eine Auftragsänderung nicht als wesentlich anzusehen ist. Selbst ab einer Quote von 5 % oder 10 bzw. 15 % des ursprünglichen Wertes liegt daher nicht ausnahmslos eine wesentliche, neuauszuschreibende Vertragsänderung vor. Vielmehr kann auch oberhalb der Prozentgrenzen eine Einzelfallprüfung anhand der nun in Art. 72 des Richtlinienvorschlags vorgesehenen Kriterien der „pressetext“-Rechtsprechung (und der weiteren Bestimmungen des Art. 72) ergeben, dass tatsächlich keine wesentliche Vertragsänderung vorliegt.Deutsches VergabenetzwerkZum anderen sind nach Art. 72 Abs. 5 des Richtlinienvorschlags der Kommission (Abs. 3 im Kompromisstext des Rates) Auftragsänderungen auch dann nicht wesentlich, wenn sie in den ursprünglichen Auftragsunterlagen in Form von klar, präzise und eindeutig formulierten Überprüfungsklauseln oder Optionen vorgesehen sind und den Gesamtcharakter des Auftrags nicht verändern. Insoweit kann sich im Einzelfall – gerade bei Verträgen über öffentliche Bauaufträge – ergeben, dass im bestehenden Vertragsverhältnis Anpassungs-/Änderungsklauseln bestehen, die auch den Tatbestand der vorgesehenen Richtlinienvorschrift erfüllen.

Derzeit bleibt zunächst abzuwarten, welchen konkreten Inhalt die neue Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe in ihrer dann geltenden Fassung erhält und welche Spielräume sie für die nationale Umsetzung und Anwendung eröffnet. Wohl erst dann wird sich zeigen, ob sich tatsächlich im Hinblick auf Änderungen während der Laufzeit von Verträgen über öffentliche Aufträge gravierende Veränderungen zur jetzigen Rechtslage ergeben.

Mertens neuBaumannDie Autoren Dr. Susanne Mertens, LL.M, und Henrik Baumann, HFK Rechtsanwälte LLP, begleiten Auftraggeber und Auftragnehmer in allen Phasen des Beschaffungsprozesses. Ihre Beratung umfasst außerdem die für die Beschaffung im Bereich Verteidigung und Sicherheit relevanten Rechtsgebiete des Öffentlichen Preisrechts sowie des Exportkontroll- und Zollrechts.

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Über Dr. Susanne Mertens, LL.M., und Henrik Baumann

Die Autoren Dr. Susanne Mertens, LL.M, und Henrik Baumann, HFK Rechtsanwälte LLP, begleiten Auftraggeber und Auftragnehmer in allen Phasen des Beschaffungsprozesses. Ihre Beratung umfasst außerdem die für die Beschaffung im Bereich Verteidigung und Sicherheit relevanten Rechtsgebiete des Öffentlichen Preisrechts sowie des Exportkontroll- und Zollrechts.

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