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Vertrauensschutz vs Eignungsprinzip: „Einmal geeignet- immer geeignet“- oder doch nicht? (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.04.2022 – Verg 25/21)

EntscheidungIm Frühjahr 2021 entschied das OLG Düsseldorf (Beschl. v. 29.03.2021 – Verg 9/21), dass ein nachträglicher Ausschluss eines Bieters wegen Nichterfüllung der Eignungskriterien auf der zweiten Stufe eines zweistufigen Verfahrens nicht mehr möglich ist, nachdem seine Eignung im Teilnahmewettbewerb (auch zu Unrecht) bejaht worden war, da durch die Aufforderung zur Angebotsabgabe ein schützenswerter Vertrauenstatbestand gesetzt worden sei. Die Entscheidung war vieldiskutiert

(siehe u.a. „Bei falsch angenommener Eignung genießt ein Bieter Vertrauensschutz (OLG Düsseldorf, 29.03.2021 – Verg 9/21)“,

wobei die kritischen Stimmen überwogen. Kernpunkt der Bedenken war, dass der Vergabesenat sich damit über den klaren Wortlaut der Richtlinie 2014/24/EU hinwegsetzt: Nach deren Art. 56 Abs. 1 a) darf ein Bieter, der materiell ungeeignet ist, keinen Zuschlag erhalten. Die vom Senat entwickelte Herangehensweise führe hier zu einer Rechtsschutzlücke.

In seiner nun veröffentlichten nachfolgenden Entscheidung (Beschl. v. 27.04.2022 – Verg 25/21), wird der Grundsatz zwar aufrecht erhalten, der tatsächliche Anwendungsbereich durch einschränkende Hinweise jedoch wohl erheblich reduziert.

Womit begründet das OLG Düsseldorf den Vertrauensschutz?

In zweistufigen Verfahren prüft der öffentliche Auftraggeber – so das OLG Düsseldorf in den jeweiligen Entscheidungen – gem. § 42 Abs. 2 Satz 1 und § 52 Abs. 1 i.V.m. § 51 VgV die Eignung der Bewerber, bevor er sie zum Verfahren zulässt. Dadurch wird mit der positiven Eignungsprüfung – anders als im offenen Verfahren – ein Vertrauenstatbestand für die zugelassenen Bewerber begründet, dass sie nicht damit rechnen müssen, dass der Auftraggeber ihre Eignung auf gleichbleibender tatsächlicher Grundlage später nochmals abweichend beurteilt. Mitbieter in Verfahren mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb haben danach einen Vergaberechtsverstoß, der in der fehlerhaften Bejahung der Eignung eines Unternehmens am Ende des Teilnahmewettbewerbs liegt, ab der Begründung des Vertrauenstatbestands hinzunehmen. Ob die vom für den Zuschlag vorgesehenen Bieter vorgelegten Eignungsnachweise den formulierten Anforderungen tatsächlich nicht genügten, könne dahinstehen.

Was war Gegenstand der neuen Entscheidung?

In einer neuen Entscheidung hält der Senat daran fest, dass auch fehlerhafte Eignungsprüfungen wegen des Vertrauensschutzes nicht korrigiert werden dürfen, dies gelte jedoch nur dann, wenn Vertrauen auch berechtigterweise entstanden durfte. Dies ist nicht er Fall, wenn der Bieter bis zum Abschluss des Teilnahmewettbewerbs nicht alle zur abschließenden Prüfung seiner Eignung erforderlichen Unterlagen eingereicht hat.

Worum ging es in der Entscheidung?

Die Antragsgegnerin schrieb mit Bekanntmachung vom 26. Juni 2020 ein Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb betreffend ein Telemedizinisches Versorgungsprogramm im Rahmen eines Vertrages der Besonderen Versorgung nach § 140 a Abs. 4 a SGBV für ihre Versicherten mit den Indikationen Herzinsuffizienz und/oder chronisch obstruktive Lungenerkrankung EU-weit aus. § 69 Abs. 4 SGBV erlaubt für solche Besonderen Behandlungsverträge Abweichungen von einzelnen Regelungen der VgV, u.a. von § 47 VgV.

Bewerber hatten ihre Eignung und Leistungsfähigkeit bezüglich der Organisation, Administration und Durchführung durch nach Art und Größe vergleichbare Referenzprojekte für gesetzlich Krankenversicherte in den letzten fünf Jahren nachzuweisen, wobei die Antragsgegnerin lediglich solche Bewerber als geeignet erachtet, welche wenigstens ein entsprechendes Referenzprojekt nachweisen können. Als Referenz eignete sich nach der Bekanntmachung in der Fassung der Änderungsbekanntmachung ein Projekt, bei dem gleichzeitig mindestens 5.000 Versicherte mit mindestens einer chronischen Erkrankung, darunter möglichst die Herzinsuffizienz, über einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten telemedizinisch hinsichtlich mindestens einer chronischen Erkrankung betreut wurden. Die Versicherten sollten möglichst aus dem Bereich der GKV stammen. Das Referenzprojekt musste mit mindestens 20 Mitarbeitern in der telemedizinischen Betreuung durchgeführt worden sein

Im Fall des Einsatzes von Nachunternehmern waren die Erklärungen für Nachunternehmer insoweit zu erbringen, wie sie auf die vom Nachunternehmer zu übernehmende Leistung anwendbar sind (Ziffer III.1.3 der Bekanntmachung). Die Verpflichtungserklärung des benannten Dritt-/Nachunternehmers gegenüber dem Bieter war spätestens vor Zuschlagserteilung einzureichen.

Die Antragstellerin und die Beigeladene sowie die zweitplatzierte Bieterin, bei der es sich um die Bestandsbieterin handelt, reichten nach erfolgreichem Teilnahmeantrag und unverbindlichem Erstangebot jeweils fristgerecht ein verbindliches Angebot ein. In der Bieterinformation teilte die Auftraggeberin der Antragstellerin mit, dass das Angebot sowohl preislich als auch in Bezug auf die Qualitätsbewertung eine geringere Punktzahl erhalten habe. Die Antragstellerin machte sodann geltend, dass das Angebot der Beigeladenen wegen unzulässiger Eignungsleihe auszuschließen sei. Diese Rüge wies die Antragsgegnerin zurück, die Eignungsleihe sei nicht in Abweichung von § 47 VgV, die gemäß § 69 Abs. 4 SGBV für Besondere Behandlungsverträge möglich wäre, ausgeschlossen worden. Einer ausdrücklichen Zulassung der Eignungsleihe bedürfe es vor dem Hintergrund des Regel-Ausnahmeverhältnisses nicht. Die Antragstellerin sah dagegen eine Eignungsleihe implizit ausgeschlossen, da in den Vergabeunterlagen nur von der Leistungserbringung durch Bieter gesprochen werde.

Die Vergabekammer entschied in erster Instanz, dass die Angriffe auf die Eignung der Beigeladenen nicht durchgriffen: Die Eignungsleihe sei in § 47 VgV ausdrücklich vorgesehen. Soweit § 69 Abs. 4 Satz 3 SGB V Abweichungen gestatte, fehle es am erforderlichen Ausschluss der Eignungsleihe. Im Gegenteil spreche die Zulassung der vollständigen Leistungserbringung durch Nachunternehmer in Ziffer 6 der Teilnahmebedingungen für die Zulässigkeit auch der Eignungsleihe. Nachunternehmer sei ein Oberbegriff. Diese Eignungsleihe habe die Beigeladene mit der Verpflichtungserklärung nachgewiesen und zwar rechtzeitig mit dem Angebot. Eine Vorlage im Teilnahmewettbewerb sei nicht i.S.d. § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV gefordert gewesen, vielmehr sei die Einreichung der Nachweise für die Nachunternehmer ausdrücklich bis vor dem Zuschlag gestattet gewesen.

Der Senat bestätigt dies im Ergebnis. Er stellt jedoch klar, dass die Antragstellerin nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gehindert war, die fehlende Eignung der Beigeladenen geltend zu machen: Zwar hat die Antragsgegnerin die Beigeladene nach vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb zum Verhandlungsverfahren zugelassen und zur Angebotsabgabe aufgefordert. Hierdurch ist aber kein Vertrauenstatbestand zugunsten der Beigeladenen dahingehend begründet worden, dass ihre Eignung (abschließend) bejaht worden ist und nachträglich nicht anders beurteilt werden kann.

Es fehle an einem schützenswerten Vertrauenstatbestand, wenn der Bieter – so wie hier – bis zum Abschluss des Teilnahmewettbewerbs nicht alle zur abschließenden Prüfung seiner Eignung erforderlichen Unterlagen eingereicht hat. Wer weiß, dass dem öffentlichen Auftraggeber im Zeitpunkt der Entscheidung über die Zulassung zum Verhandlungsverfahren die Grundlage für eine abschließende Prüfung seiner Eignung fehlte, kann legitimerweise kein Vertrauen in die Beurteilung seiner Eignung haben:

Zu den im Rahmen der Eignungsprüfung vorzulegenden Unterlagen gehört bei Inanspruchnahme einer Eignungsleihe eine ordnungsgemäße Verpflichtungserklärung des Eignungsleihgebers. Ein Bieter, der sich im Rahmen der Eignungsprüfung auf die Kapazitäten anderer Unternehmen beruft, hat nachzuweisen, dass er tatsächlich Zugriff auf deren Mittel hat, weshalb in zweistufigen Vergabeverfahren das eignungsvermittelnde Unternehmen bereits innerhalb des Teilnahmewettbewerbs benannt und auch dessen Verfügbarkeit nachgewiesen werden muss. Der Systematik des § 47 VgV nach muss der Nachweis erbracht sein, wenn der öffentliche Auftraggeber nach Abs. 2 im Rahmen der Eignungsprüfung überprüft, ob die entsprechenden Drittunternehmen selbst die Eignungskriterien erfüllen und ob sie Ausschlussgründe aufweisen; denn vorgelagert ist nach § 47 Abs. 1 VgV die Prüfung der Eignung des Bieters selbst, der sich im Wege der Eignungsleihe auf Dritte bezieht.

Vorliegend hat die Beigeladene die Verpflichtungserklärung ihrer Eignungsleihgeberin erst im Rahmen des Verhandlungsverfahrens mit ihrem Angebot vorgelegt. Dies war zwar in der Spezialkonstellation aufgrund der nach § 69 Abs. 4 Satz 3 SGB V zulässigen Abweichung vergaberechtskonform möglich: Soweit nach § 42 Abs. 2 VgV bei Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb nur solche Bewerber zur Abgabe eines Angebots aufzufordern sind, die ihre Eignung – vollständig – nachgewiesen haben, kann hiervon nach § 69 Abs. 4 Satz 3 SGB V bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach 140a SGB V abgewichen werden, was vorliegend geschehen ist: Nach Ziffer III.1.1.b) der Auftragsbekanntmachung war die Verpflichtungserklärung des benannten Dritt-/Nachunternehmers gegenüber dem Bieter spätestens vor Zuschlagserteilung einzureichen, wobei Drittunternehmer auch der Eignungsleihgeber ist. Kehrseite der folglich zulässigen und von der Beigeladenen genutzten Möglichkeit der Vorlage erst nach Zulassung zum Verhandlungsverfahren ist aber, dass der öffentliche Auftraggeber die Eignung ersichtlich nicht abschließend prüfen und dementsprechend auch kein Vertrauen in Ergebnis dieser Prüfung begründet werden kann.

Ein Vertrauenstatbestand wird also – so das OLG Düsseldorf – nur dann begründet, wenn der öffentliche Auftraggeber die Eignung der Bieter abschließend bejaht hat. Nur wenn nach Abschluss des Teilnahmewettbewerbs noch Unterlagen zur Eignungsprüfung vorzulegen seien, wie beispielsweise Nachweise zur Eignungsleihe, dürfe die Eignung erneut geprüft werden.

Praxistipp

Auch wenn der Senat hier den Grundsatz des Vertrauensschutzes aufrecht erhält, wird durch die Klarstellung, dass Vertrauensschutz nur auf Basis einer abgeschlossenen Eignungsprüfung und unverändertem Sachverhalt entstehen kann, der Anwendungsbereich der fehlerhaft bejahten und gleichwohl fortbestehenden Eignung limitiert.

In der Zusammenschau mit der Ausgangsentscheidung führt dies zu einer Reihe von Fragen, die die klare Abgrenzung dieses Vertrauenstatbestandes schwer machen: Ist zum Beispiel die Eignungsprüfung tatsächlich formal abgeschlossen, wenn im Rahmen einer Rüge neue Sachverhalte vorgebracht werden (z.B. die Referenzen sind entgegen der Zusage gerade nicht abgeschlossen)? Was ist, wenn der Auftraggeber im regulären Anwendungsbereich der VgV (ohne die vorliegende Besonderheit der Abweichung nach § 69 Abs. 3 SGB V) die Eignungsprüfung auch ohne Anforderung der Verpflichtungserklärung als abgeschlossen betrachtet?

Die Vergabekammer des Bundes hatte in einer weiteren neueren Entscheidung im Anwendungsbereich der VSVgV

VK 1-45/22, Beschluss vom 03.06.2022, in diesem Aspekt auch bestätigt durch OLG Düsseldorf, VII-Verg 25/22 (nicht veröffentlicht),

den Vertrauenstatbestand nicht gegeben gesehen, wenn der Auftraggeber, der an keiner Stelle eine vorzulegende Verpflichtungserklärung verlangt hatte, ohne deren Vorliegen die Eignungsprüfung als abgeschlossen bejaht hatte. Da die Vorlage der Verpflichtungserklärung qua Gesetz gefordert war, konnte die Eignungsprüfung nicht als abgeschlossen gelten, so dass damit die Grundlage für einen Vertrauenstatbestand fehlte. Wo hier die Unterscheidung zwischen einer in der Sache aus anderen Gründen zu Unrecht bestätigten Eignung liegt, bleibt offen.

Insgesamt liegt nahe, dass die Bezugnahme auf die Argumentation „Einmal geeignet – immer geeignet“ für Auftraggeber und Beigeladene deutlich schwieriger möglich sein wird. Die in Bezug auf die Ausgangsentscheidung konstatierte Rechtsschutzlücke ist damit wohl nur noch in deutlich geringerem Maße vorhanden. Ob hier – wie teilweise an anderer Stelle angeraten – der Hinweis des Auftraggebers auf eine ausdrücklich abgeschlossene Eignungsbewertung zur Verbesserung der Position geeignet ist, erscheint fraglich. Bewerbern ist daher nach wie vor dringend zu empfehlen, durch rechtzeitige Bewerberfragen eine möglichst abgesicherte Eignungsentscheidung insbesondere bei Unklarheiten in den Anforderungen herbeizuführen.

Ergänzender Hinweis

Die Entscheidung des OLG Düsseldorf ist auch unter weiteren Gesichtspunkten (u.a. Auslegung der Vergabeunterlagen, Maßstab der Eignungsprüfung) lesenswert. Die Darstellung dieser weiteren Themen hätte jedoch den Rahmen des vorliegenden Formates überschritten.


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Über Dr. Annette Rosenkötter

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Vergaberecht sowie Verwaltungsrecht Frau Dr. Rosenkötter ist Partnerin in der Sozietät FPS Fritze Wicke Seelig in Frankfurt a.M.. Sie berät im Vergaberecht als auch im europäischen Beihilfenrecht, dort insbesondere im Gesundheits- und im ÖPNV-Bereich. Frau Dr. Rosenkötter hält regelmäßig Vorträge und Sch​ulungen zum Vergaberecht und hat zahlreiche vergaberechtliche Fachbeiträge veröffentlicht.

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