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Gegen den Strom: Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB endet nicht an Sonn- und Feiertagen! (OLG Bremen, Beschl. v. 04.11.2022 – 2 Verg 1/22)

EntscheidungDer Beschluss des Vergabesenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen ist insbesondere wegen seines obiter dictum bemerkenswert: Entgegen der bisherigen Rechtsprechung und Kommentarliteratur erwägt der Senat, die Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB könne nicht an einem Sonn- oder Feiertag enden, sondern sei auf den folgenden Arbeitstag zu verlängern. Darüber hinaus befasst sich das Gericht mit den Anforderungen an einen erfolgreichen Nachprüfungsantrag nach Zuschlagserteilung sowie mit dem Ausschluss eines Bieters wegen Änderung der Vergabeunterlagen. Der folgende Beitrag erläutert, wie die Entscheidung rechtlich – und vor allem praktisch – einzuordnen ist und welche Schlussfolgerungen die Akteure im Vergaberechts-Kosmos daraus ziehen können.

§§ 134, 135, 160, 163, 169 GWB; §§ 57, 82 VgV; § 193 BGB; Art. 3 Abs. 4 VO (EWG, Euratom) Nr. 1182/71

Leitsätze (nicht amtlich)

  1. Ein Nachprüfungsantrag ist ausnahmsweise auch nach Erteilung des Zuschlages statthaft, soweit der Antragsteller binnen der Frist des § 135 Abs. 2 Satz 1 GWB einen Verstoß im Sinne des § 135 Abs. 1 GWB geltend macht.
  2. Hat sich ein Verstoß des öffentlichen Auftraggebers gegen die Stillhaltefrist des 134 Abs. 2 GWB nicht zu Lasten des Bieters ausgewirkt, kann der Bieter die Feststellung der Unwirksamkeit des öffentlichen Auftrages nicht verlangen.
  3. Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob die Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB an einem Sonntag enden dürfe. Gemäß Art. 3 Abs. 4 Satz 1 VO (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 ist eine solche Frist auf den sich anschließenden Arbeitstag zu verlängern. Da es sich bei der Stillhaltefrist um keine „rückwärts berechnete“ Frist handelt, gilt insbesondere die Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 4 Satz 2 VO (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 nicht.

Sachverhalt

In einem Vergabeverfahren über die Lieferung von Rechenclustern beabsichtigte die Antragsgegnerin das Angebot der späteren Antragstellerin auszuschließen. In der Vorabinformation vom 19.05.2022 begründete die Vergabestelle den Ausschluss damit, dass die von der Bieterin angebotene Leistung von den Vorgaben der Vergabeunterlagen abweiche (u.a. nicht identische GPU-Rechenknoten). Gleichzeitig kündigte die Antragsgegnerin an, den Zuschlag am 30.05.2022 an die Beigeladene zu erteilen. Daraufhin rügte die Antragstellerin erfolglos mit Schreiben vom 23.05.2022 insbesondere die Berechnung der Stillhaltefrist sowie den Zuschlagstermin. Am 30.05.2022 (Montag) erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen um 09:16 Uhr den Zuschlag. Kurz darauf erhielt sie von der Vergabekammer Bremen den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin, welcher in der Nacht des 30.05.2022 bei der Nachprüfungsbehörde eingegangen war.

Die VK Bremen verwarf den Nachprüfungsantrag mit Beschluss vom 18.07.2022 (AZ.: 16-VK 1/22) als unzulässig, da der Zuschlag bereits wirksam auf das Angebot der Beigeladenen erteilt worden sei. Die Wartefrist des § 134 Abs. 2 GWB sei am 29.05.2022, 24:00 Uhr abgelaufen. Unschädlich sei, dass der 29.05.2022 ein Sonntag sei. § 193 BGB sei nicht auf die Frist i.S.d. § 134 GWB anwendbar. Eine andere Auslegung ergebe sich auch nicht aus Art. 3 Abs. 4 VO (EWG, Euratom) Nr. 1182/71. Schließlich liege kein Zuschlagsverbot nach § 169 Abs. 1 GWB vor, da die Auftraggeberin erst nach Zuschlagserteilung von der VK über den Nachprüfungsantrag informiert worden sei.

Gegen den Beschluss der Vergabekammer hat die Antragstellerin fristgerecht sofortige Beschwerde eingelegt und hilfsweise beantragt, die aufschiebenden Wirkung bis zur Entscheidung zu verlängern. Sie beantragte nunmehr, die Unwirksamkeit der fraglichen Vergabe und die Rechtsverletzung festzustellen, sowie das Vergabeverfahrens aufzuheben.

Die Entscheidung

Ohne Erfolg! Das OLG Bremen wies die sofortige Beschwerde und sowie die Eilanträge zurück. Der Nachprüfungsantrag sei im Wesentlichen zulässig, im Ergebnis jedoch unbegründet.

Nach Ansicht des Vergabesenats habe die VK den Nachprüfungsantrag zu Unrecht als unzulässig zurückgewiesen. Zwar sei ein Nachprüfungsantrag grundsätzlich nur statthaft, solange ein Vergabeverfahren noch „laufe“, also noch nicht durch wirksamen Zuschlag abgeschlossen sei. Eine Ausnahme bilde jedoch die Konstellation des § 135 Abs. 1 GWB, wonach ein mit dem Zuschlag zunächst schwebend wirksamer Vertrag als von Anfang an unwirksam gelte. Die Vorschrift des § 135 Abs. 1 GWB regele damit den Spezialfall der Statthaftigkeit des Nachprüfungsantrags wegen eines bereits erteilten Zuschlags. Die Antragstellerin sei auch nicht gehindert gewesen, ihr Begehren bzw. dessen Begründung nachträglich zu ändern: Sie habe erst im Nachprüfungsverfahren von der tatsächlichen Zuschlagserteilung erfahren und einen Verstoß gegen die Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB fristgerecht i.S.d. § 135 Abs. 2 Satz 1 GWB geltend gemacht. Die Frage eines Verstoßes gegen § 135 Abs. 1 GWB sei doppelt relevant, d.h. sie berühre sowohl die Statthaftigkeit als auch die Begründetheit des Nachprüfungsantrags. Ob ein Verstoß gegen § 135 Abs. 1 GWB tatsächlich zu bejahen sei, sei jedoch erst im Rahmen der Begründetheit zu überprüfen. Der Nachprüfungsantrag sei jedenfalls insoweit zulässig, als die Antragstellerin den Ausschluss ihres Angebots wegen unklarer Leistungsbeschreibung und eine Verletzung der Stillhaltefrist rüge.

Im Ergebnis hielt das OLG Bremen den Nachprüfungsantrag für unbegründet. Die Vorgaben in der Leistungsbeschreibung seien hinreichend klar und eindeutig zu verstehen, das Angebot der Antragstellerin entspreche diesen Vorgaben jedoch nicht und sei daher auszuschließen. Ein möglicher Verstoß gegen die Stillhaltefrist reiche für sich genommen – jedenfalls im konkreten Fall – nicht aus, um einen Nachprüfungsantrag begründet erscheinen zu lassen. Da der Bieterausschluss nicht zu beanstanden sei, bedürfe es keiner abschließenden Entscheidung (oder gar Divergenzvorlage vor dem BGH), ob die Antragsgegnerin die Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 Satz 2 GWB richtig berechnet habe. Der Vergabesenat vertritt die Auffassung, das Nachprüfungsverfahren diene nicht einer allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle, sondern dem Individualschutz des einzelnen Bieters. Im entschiedenen Fall hätte sich ein etwaiger Vergaberechtsverstoß wegen Nichteinhaltung der Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB nicht kausal zu Lasten der Antragstellerin ausgewirkt, da ihr Angebot ohnehin auszuschließen war.

Bemerkenswert ist das obiter dictum des OLG Bremen zum Ende der Stillhaltefrist: Der Vergabesenat stellt die bisherige (überwiegende) obergerichtliche Rechtsprechung und Literaturmeinung in Frage, wonach der Ablauf der Stillhaltefrist an einem Sonntag unschädlich sei. Es sei die Regelung des Art. 3 Abs. 4 Satz 1 VO (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 anzuwenden, wonach sich eine Frist, die an einem Sonntag ablaufe, auf den sich anschließenden Arbeitstag verlängere. Die Anwendung der Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 4 Satz 2 VO (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 auf rückwärts berechnete Fristen sei „zumindest zweifelhaft“, insbesondere ob es sich bei der Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB um eine solche Frist handele.

Rechtliche Würdigung und Einordnung

Die Entscheidung des OLG Bremen ist insbesondere im Hinblick auf die Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB von den vergaberechtlichen Akteuren zu berücksichtigen.

1. Zur Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB

Für die in § 134 Abs. 1 Satz 1 GWB normierte Vorabinformationspflicht des öffentlichen Auftraggebers gilt eine grundsätzliche Stillhaltefrist von 15 Kalendertagen bzw. bei Versendung der Information per Fax oder auf elektronischem Weg von 10 Kalendertagen. Da es sich um eine sog. Mindestwartefrist handelt, kann der öffentliche Auftraggeber die Frist bewusst verlängern. Demgegenüber kommt eine kürzere Frist grundsätzlich nicht in Betracht (Ausnahme: besondere Dringlichkeit i.S.d. § 134 Abs. 3 Satz 1 GWB).

Fristbeginn ist gemäß § 134 Abs. 2 Satz 3 GWB der Tag nach Absendung der Vorabinformation. Wird die Information per Post versandt, ist die Übergabe an den Postdienstleister erforderlich. Per E-Mail bedarf es der Übermittlung an den Postausgangsserver. Die (tatsächliche oder virtuelle) Ablage im Postausgang genügt in den o.g. Fällen nicht, sofern noch eine Handlung des öffentlichen Auftraggebers zur Übermittlung notwendig ist. Zwar kommt es auf den Tag des Zugangs nach § 134 Abs. 2 Satz 3 2.HS GWB nicht an, was dennoch nichts daran ändert, dass die Vorabinformation den betroffenen Unternehmen zugegangen sein muss. Hierdurch wird der effektive Rechtsschutz gewährleistet und der Schutzzweck der Vorschrift gewahrt (siehe Conrad, in Gabriel/Krohn/Neun [Hrsg.], Handbuch Vergaberecht, 3. Auflage 2021, § 34 Rn. 61; Dreher/Hoffmann, in Burgi/Dreher/Opitz [Hrsg.], Beck’scher Vergaberechtskommentar, Bd. 1, 4. Auflage 2022, § 134 GWB Rn. 82 f.; vgl. außerdem EuGH, U. v. 23.12.2009 – Rs. C-455/08 „Kommission ./. Irland“, Tenor).

Bemerkenswert an der Entscheidung des OLG Bremen ist das obiter dictum zum Fristende, in dem sich der Vergabesenat gegen die „nahezu einhellige“ Auffassung in der Rechtsprechung und Kommentarliteratur stellt.

Mit dem OLG Bremen stellt erstmals eine Nachprüfungsinstanz in Frage, dass die Stillhaltefrist nicht an einem Sonn- oder Feiertag enden kann (der Senat bezieht sich ausdrücklich auf Kafedžić, in Vergabeblog vom 16.08.2021, Nr. 47673; ferner ders. in Vergabeblog vom 28.01.2021, Nr. 45813). Die bisherige Rechtsprechung (OLG Düsseldorf, B. v. 14.05.2008 – AZ.: VII-Verg 11/08; VK Bund, B. v. 28.06.2021 – AZ.: VK 2-77/21; ferner VK Sachsen-Anhalt, B. v. 21.06.2018 – AZ.: 1 VK LSA 13/18) und Kommentarliteratur (vgl. nur Conrad, in Gabriel/Krohn/Neun [Hrsg.], Handbuch Vergaberecht, 3. Auflage 2021, § 34 Rn. 59; Fülling, in MüKo Wettbewerbsrecht, 4. Auflage 2022, § 82 VgV Rn. 10; Völlink, in Ziekow/Völlink [Hrsg.], Vergaberecht, 4. Auflage 2020, § 82 VgV Rn. 6; von Wietersheim, in BeckOK Vergaberecht, 28. Edition Stand: 30.04.2023, § 82 VgV Rn. 17) hat ein Ende der Stillhaltefrist auch an einem Sonn- oder Feiertag für zulässig erachtet. Auch wenn es in der vorliegenden Entscheidung aufgrund des zulässigen Bieterausschlusses nicht darauf ankam, sah sich der Vergabesenat veranlasst, zum Ende der Stillhaltefrist Stellung zu nehmen.

Im vergaberechtlichen Diskurs werden hierzu vor allem folgende Aspekte diskutiert:

a) Anwendung des § 193 BGB bei der Stillhaltefrist?

Zunächst stellt sich die Frage, ob § 193 BGB auf die Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB Anwendung findet. § 193 BGB lautet:

„Ist an einem bestimmten Tage oder innerhalb einer Frist eine Willenserklärung abzugeben oder eine Leistung zu bewirken und fällt der bestimmte Tag oder der letzte Tag der Frist auf einen Sonntag, einen am Erklärungs- oder Leistungsort staatlich anerkannten allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend, so tritt an die Stelle eines solchen Tages der nächste Werktag.“
(Hervorhebungen durch den Verfasser).

Die vorgenannte Rechtsprechung und Literatur lehnen die Anwendung der Vorschrift auf § 134 Abs. 2 GWB im Wesentlichen ab. Zur Begründung wird auf den Wortlaut des § 134 Abs. 2 Satz 1 und 2 GWB verwiesen, wonach es bei der Fristberechnung ausschließlich auf die „Kalendertage“ ankomme. § 193 BGB beziehe sich außerdem auf Fristen und Termine, die für die Abgabe einer Willenserklärung oder die Bewirkung einer Leistung bestimmt seien. Trete dagegen mit dem Ablauf der Stillhaltefrist eine bestimmte Rechtswirkung ein, so sei die Vorschrift nicht anwendbar. Weder im Rahmen einer entsprechenden Anwendung noch im Wege einer Gesamtanalogie in Verbindung mit § 222 Abs. 2 ZPO und § 31 Abs. 3 VwVfG könne § 193 BGB auf die Zuschlagserteilung angewendet werden (OLG Düsseldorf, B. v. 14.05.2008 – AZ.: VII-Verg 11/08, Rn. 18 ff., juris; VK Bund, B. v. 28.06.2021 – AZ.: VK 2-77/21, Rn. 24, juris). Zudem sei die Frist nicht als Rechtsmittelfrist zu verstehen (OLG Düsseldorf, a.a.O.).

Auf die Anwendung des § 193 BGB nimmt das OLG Bremen im vorliegenden Fall keinen Bezug (zur Argumentation, die Vorschrift grundsätzlich auf die Stillhaltefrist anzuwenden, siehe Kafedžić, in Vergabeblog, a.a.O.).

b) Anwendung des Art. 3 Abs. 4 VO (EWG, Euratom) Nr. 1182/71?

Der Vergabesenat verweist auf Art. 3 Abs. 4 VO (EWG, Euratom) Nr. 1182/71, um zu begründen, dass es zweifelhaft sei, die Stillhaltefrist an einem Sonn- oder Feiertag enden zu lassen. Die Vorschrift lautet:

„Fällt der letzte Tag einer nicht nach Stunden bemessenen Frist auf einen Feiertag, einen Sonntag oder einen Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf der letzten Stunde des folgenden Arbeitstags. Diese Bestimmung gilt nicht für Fristen, die von einem bestimmten Datum oder einem bestimmten Ereignis an rückwirkend berechnet werden.“
(Hervorhebungen durch den Verfasser).

Insbesondere sei, so das Gericht, die Ausnahme des Satzes 2 nicht einschlägig, da es sich bei der Stillhaltefrist gerade nicht um eine „rückwärts berechnete“ Frist handele. § 134 Abs. 2 Satz 2 GWB knüpfe an das fristauslösende Ereignis der Vorabinformation an und berechne die Stillhaltefrist von diesem Zeitpunkt an betrachtet für die Zukunft. Anders verhalte es sich bei einer rückwärts berechneten Frist, die ausgehend vom fristauslösenden Ereignis einen Zeitpunkt in der Vergangenheit bestimme. Schließlich stelle die Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 4 Satz 2 VO (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 auf die Berechnung als solche und nicht auf mögliche Rechtswirkungen am Ende der Frist ab.

c) Stellungnahme des Verfassers

Das OLG Bremen liefert gute und interessante Ansätze für eine Argumentation im Rahmen einer künftigen Divergenzvorlage vor dem BGH.

Aus europarechtlicher Sicht ist jedenfalls Art. 3 Abs. 4 VO (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 zu berücksichtigen. So sieht es auch die VK Bund (B. v. 28.06.2021 – AZ.: VK 2-77/21, Rn. 25, juris), wonach die „Regelungen dieser VO […] nach deren Art. 1 grundsätzlich auch im Rahmen des EU-Vergaberechts zu beachten“ seien. Die Verordnung stellt ausweislich ihrer Erwägungsgründe allgemeine und einheitliche Regeln für die Fristen, Daten und Termine für Rechtsakte auf, die der Rat und die Kommission erlassen haben oder künftig erlassen werden. Insofern dürfte sich die Verordnung nicht nur auf die in der VgV geregelten Fristen (vgl. § 82 VgV), sondern auf das gesamte EU-Vergaberecht beziehen. Die Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB diente der Umsetzung der Vorgaben des Art. 2a Abs. 2 der Rechtsmittelrichtlinie 2007/66/EG, die im Zuge der Vergaberechtsmodernisierung konsolidiert und um den genannten Artikel ergänzt wurde. Die Rechtsmittelrichtlinie ist als Rechtsakt im Sinne der Verordnung anzusehen. Schließlich enthält der Erwägungsgrund 106 der EU-Vergaberichtlinie 2014/24/EU den deklaratorischen Hinweis, dass für die Berechnung der Fristen nach dieser Richtlinie die Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 gilt. Dem steht nicht entgegen, dass die EU-Vergaberichtlinie 2014/24/EU ihrerseits keine Regelungen zur Berechnung der Stillhaltefrist enthält. Die Stillhaltefrist ist auch keine „rückwärts berechnende“ Frist: Nicht nur der Wortlaut des § 134 Abs. 1 Satz 1 GWB („am Tag nach Absendung der Information durch den Auftraggeber“) spricht dafür, die Absendung der Vorabinformation als fristauslösendes Ereignis anzusehen. Auch der europäische Richtliniengeber teilt diese Auffassung, wonach für den Beginn [der Stillhaltefrist] auf die Absendung der Informationen durch den öffentlichen Auftraggeber abzustellen“ sei (Europäisches Parlament, Bericht vom 10.05.2007 – A6-0172/2007, Seite 100).

Im Hinblick auf § 193 BGB kann diskutiert werden, ob die Vorschrift direkt oder zumindest entsprechend anzuwenden ist. Zwar hat das OLG Düsseldorf (B. v. 14.05.2008 – AZ.: VII-Verg 11/08, Rn. 20, juris) eine analoge Anwendung der Vorschrift mit der Begründung abgelehnt, dass eine Frist im Sinne des § 193 BGB eine Zeitspanne sei, „innerhalb derer Leistungen (Handlungen) erbracht oder Erklärungen abgegeben werden sollen oder können; zu ihnen [werde] mit der Fristbestimmung Gelegenheit gegeben.“ Nach dieser Auffassung scheitert eine analoge Anwendung daran, dass die Stillhaltefrist des § 134 GWB ihrer Konzeption nach keine Frist ist, innerhalb derer jemand etwas tun oder erklären muss, sondern lediglich eine Frist, innerhalb derer der Auftraggeber gerade nichts tun darf.

Die höchstrichterliche Rechtsprechung bejaht jedoch die (entsprechende) Anwendung des § 193 BGB auch für verfahrensrechtliche Maßnahmen, sofern von ihnen auch eine materielle Wirkung ausgeht (vgl. nur BGH, U. v. 26.03.1953 – AZ.: IV ZR 165/52 zu § 41 KO). Diese Rechtsprechung dürfte auf vergaberechtliche Aspekte übertragbar sein:

Die Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB ist nach dem Willen des Gesetzgebers (auch) als sog. „Mindestüberlegungsfrist“ (BT-Drs. 18/6281, Seite 135) bzw. „Überprüfungsfrist“ (VK Bund, B. v. 05.11.2014 – AZ.: VII-Verg 20/14, Rn. 33, juris) für einen Nachprüfungsantrag ausgestaltet. Sie dient dem Schutz eines nicht berücksichtigten Bieters, um u.U. vergaberechtlichen Rechtsschutz zu erlangen (siehe Erwägungsgrund 6 RL 2007/66/EG: „Die Stillhaltefrist sollte den betroffenen Bietern genügend Zeit geben, um die Zuschlagsentscheidung zu prüfen und zu beurteilen, ob ein Nachprüfungsverfahren eingeleitet werden sollte.“).

Mit anderen Worten handelt es sich bei § 134 Abs. 2 GWB nicht „nur“ um eine bloße Stillhaltefrist, sondern auch um eine „Mindestüberlegungsfrist“, welche sich jedenfalls mittelbar prozessual und materiell auswirkt. So ist es im Hinblick auf die 10-tägige Rügefrist des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB geboten, § 193 BGB anzuwenden, da die Rüge als geschäftsähnliche Handlung und verfahrensrechtliche Maßnahme zur Wahrung einer prozessualen Ausschlussfrist erachtet wird (Horn/Hoffmann, in Burgi/Dreher/Opitz [Hrsg.], Beck’scher Vergaberechtskommentar, Bd. 1, 4. Auflage 2022, § 160 GWB Rn. 48 mit Verweis auf OLG Düsseldorf, B. v. 07.12.2011 – AZ.: VII-Verg 81/11, Rn. 29, juris). Zudem ist der Nachprüfungsantrag als eine Prozesshandlung zu qualifizieren, die nach den Grundsätzen der §§ 133, 157 BGB auszulegen ist, und auf die § 193 BGB Anwendung findet (vgl. Horn/Hoffmann, a.a.O. Rn. 59; Nowak, in Pünder/Schellenberg [Hrsg.], Vergaberecht, 3. Auflage 2019, § 160 GWB Rn. 22).

Insofern lässt sich argumentieren, dass aufgrund des Zusammenhangs zwischen der Stillhaltefrist und der Rügefrist des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB und dem Sinn und Zweck des § 134 Abs. 2 GWB („Mindestüberlegungsfrist“ für den Rechtsschutz) dieselben Regeln für die Fristberechnung gelten müssen. Nur so kann dem Telos des Gesetzgebers, die Fristen „besser aufeinander ab[zu]stimmen“ (BT-Drs. 18/6281, Seite 135), umfassend entsprochen und etwaige Widersprüche vermieden werden. Der Zusatz in § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 2. HS GWB steht dem nicht entgegen, da die Fristen auch bei Anwendung des § 193 BGB in ihrem Ablauf weiterhin selbstständig voneinander zu betrachten sind und im Einzelfall die Stillhaltefrist vor der Rügefrist ablaufen kann. Vielmehr stärkt eine solche Auslegung den vergaberechtlichen Bieterschutz, da die Bieter faktisch bereits bei der Rüge und im Nachprüfungsverfahren unter erheblichen Zeitdruck stehen. Schließlich wirkt sich die Stillhaltefrist – im Falle eines Nachprüfungsantrags – zumindest mittelbar auf das („prozessuale“) Zuschlagsverbot nach § 169 Abs. 1 GWB aus, entfaltet also auch materielle Wirkung (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 20, juris).

2. Weitere Aspekte der Entscheidung

Der Vergabesenat beschäftigt sich ausführlich mit den Voraussetzungen eines erfolgreichen Nachprüfungsantrags nach bereits erfolgtem Zuschlag. Das Gericht schließt sich in diesem Punkt der bisherigen Rechtsprechung an, wonach Verstöße gegen § 135 GWB als doppelt relevante Tatsachen sowohl die Statthaftigkeit des Antrags als auch dessen Begründetheit betreffen (dazu OLG Düsseldorf, B. v. 19.04.2017 – AZ.: VII-Verg 38/16, Rn. 24, juris). Der Verstoß selbst ist im Rahmen der Begründetheit zu prüfen. Die Unwirksamkeit i.S.d. § 135 GWB kann nur dann begründet festgestellt werden, wenn sich dieser Verstoß auch zu Lasten des Antragstellers ausgewirkt hat, er also kausal in seinen Rechten verletzt wurde oder dies zumindest nicht ausgeschlossen werden kann (OLG München, B. v. 31.01.2013 – AZ.: Verg 31/12, Rn. 55, juris). Allein ein Verstoß gegen die Vorabinformation vor Zuschlagserteilung nach § 134 GWB berührt nicht die Aussichten des Angebots, den Zuschlag zu erhalten (OLG Düsseldorf, B. v. 06.09.2017 – AZ.: VII-Verg 9/17, Rn. 53, juris).

Schließlich hat sich das OLG Bremen mit dem Ausschluss eines Bieters wegen Änderung der Vergabeunterlagen gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV befasst. Zur Eindeutigkeit und Auslegung von Vergabeunterlagen siehe den Beitrag des Verfassers in Vergabeblog vom 13.02.2023, Nr. 52406. Auf die – in den Augen der Antragstellerin in Frage gestellte – Zweckmäßigkeit der Vorgaben komme es nicht an. Es sei Sache des Auftraggebers, den eigenen Bedarf zu definieren, einschließlich der Anforderungen an die von ihm gewünschte Leistung (OLG München, B. v. 28.07.2011 – AZ.: Verg 10/08, Rn. 32, juris; OLG Brandenburg, B. v. 30.01.2014 – AZ.: Verg W 2/14, Rn. 47, juris).

Praxistip

Die Entscheidung des OLG Bremen ist sowohl für öffentliche Auftraggeber als auch für Bieter in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung:

  1. Der Vergabesenat vertritt entgegen der bisherigen Rechtsprechung und Kommentarliteratur die Auffassung, dass die Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB nicht an einem Sonn- oder Feiertag enden dürfe, sondern auf den anschließenden Arbeitstag zu verlängern sei. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollten öffentliche Auftraggeber die Vorabinformationsschreiben an die nicht berücksichtigten Bieter und Bewerber so versenden, dass die Stillhaltefrist nicht auf ein Wochenende (Sonnabend, Sonntag) oder einen Feiertag fällt. Es bleibt abzuwarten, wie sich die (obergerichtliche) Rechtsprechung zu dieser Thematik weiter verhalten wird und ob es zukünftig zu einer Divergenzvorlage vor dem BGH kommt.
  2. Öffentliche Auftraggeber haben nicht nur die zeitlichen, sondern auch die inhaltlichen Anforderungen an eine Vorabinformation zu beachten. Nach § 134 Abs. 1 Satz 1 GWB hat der öffentliche Auftraggeber die nicht berücksichtigten Bieter bzw. Bewerber über den Namen des Zuschlagsdestinatärs, die Gründe für die vorgesehene Nichtberücksichtigung ihres Angebots und den frühesten Zeitpunkt des Vertragsschlusses mitzuteilen. In der Praxis ist es zweckmäßig, allen beteiligten Unternehmen zum gleichen Zeitpunkt die Vorabinformation zu übermitteln, damit derselbe Termin für den frühesten Zeitpunkt des Vertragsschlusses mitgeteilt werden kann. Die Vorabinformation muss in jedem Fall den (frühesten) Zuschlagszeitpunkt enthalten, da eine fehlende Angabe der Wirksamkeit des Zuschlags entgegensteht (OLG Düsseldorf, B. v. 12.06.2019 – AZ.: VII-Verg 54/18).Die Bemessung der konkreten Stillhaltefrist darf nicht unterschätzt werden: Erschwert der Auftraggeber den Bietern die Inanspruchnahme effektiven Rechtsschutzes unzumutbar, indem er die Frist so auf Feiertage und Wochenenden legt, dass einem Bieter praktisch nur vier bis fünf Arbeitstage für die Entscheidung über einen Nachprüfungsantrag verbleiben, ist die Frist nicht wirksam in Lauf gesetzt (OLG Düsseldorf, B. v. 05.11.2014 – AZ.: VII-Verg 20/14; B. v. 05.10.2016 – AZ.: VII-Verg 24/16; VK Südbayern, B. v. 04.08.2022 – AZ.: 3194.Z3-3_01-22-1; vgl. OLG Rostock, B. v. 07.11.2018 – AZ.: 17 Verg 2/18). Eine faktische Verkürzung kann auch dann vorliegen, wenn der öffentliche Auftraggeber neben Wochenenden und gesetzlichen Feiertagen auch die beiden einzigen Werktage im Jahr, an denen die Vergabekammer dienstfrei hat (24.12. und 31.12.), in die Stillhaltefrist einbezieht (VK Südbayern, a.a.O., dazu Pfarr in Vergabeblog vom 05.12.2022, Nr. 51666). Entscheidend sind jedoch stets die Umstände des konkreten Einzelfalls.
  3. Neben den vorgenannten Aspekten gilt es für die betroffenen Bieter bzw. Bewerber, während der laufenden Stillhaltefrist eine interne Organisation aufrechtzuerhalten, um ggf. keine Fristen im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens zu versäumen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Wochenenden und Feiertage, sowie dienstfreie Tage der Nachprüfungsbehörden. Ein Verstoß gegen § 134 Abs. 2 GWB reicht jedoch für sich genommen nicht aus, um im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren erfolgreich zu sein.
  4. Bieter und Bewerber sind an die Vorgaben aus der Leistungsbeschreibung gebunden. Vergaberechtlich kommt es nicht darauf an, ob der öffentliche Auftraggeber die – aus Sicht der Unternehmen – sinnvollste oder zweckmäßigste Lösung beschaffen will. Es liegt vielmehr im Ermessen des öffentlichen Auftraggebers, welche Anforderungen er an die von ihm ausgeschriebene und gewünschte Leistung stellt. Er ist beispielsweise nicht verpflichtet, ein höherwertiges Produkt zu wählen, wenn er ein einfacheres für ausreichend hält. Eine Abweichung von der Leistungsbeschreibung ist damit nicht gerechtfertigt und führt zum Ausschluss des betreffenden Unternehmens.
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Über Sven Müller

Sven Müller ist Rechtsanwalt im Berliner Büro von Dentons. Sein Tätigkeitsschwerpunkt liegt in der Beratung zu allen Aspekten der öffentlichen Auftragsvergabe, einschließlich der Begleitung von Vergabeverfahren und Vertretung in Nachprüfungsverfahren. Er verfügt über mehrjährige Erfahrung im Vergaberecht und war als Mitarbeiter in internationalen Wirtschaftskanzleien in diesem Rechtsgebiet tätig.

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