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Nachforderungsrecht von Unterlagen, Erklärungen und Nachweisen in förmlichen Vergabeverfahren – Reichweite und Grenzen (EuGH, Urt. v. 11.05.2017 – C-131/16)

Entscheidung-EUDie Nachforderung von Unterlagen, Erklärungen und Nachweisen stellt die Vergabepraxis häufig vor schwierige Rechtsfragen. Auf der einen Seite erhöht die Möglichkeit der Nachforderung die Flexibilität öffentlicher Auftraggeber, weil fehlende Unterlagen nicht mehr zwingend den sofortigen Angebotsausschluss bedeuten. Auf der anderen Seite geht mit dem Gewinn an Flexibilität einher, dass sich häufig nicht trennscharf abgrenzen lässt, ob eine Unterlage überhaupt nachforderungsfähig ist oder nicht. In diesem Zusammenhang hat der Europäische Gerichtshof Feststellungen getroffen, die insbesondere für die Ausübung des Ermessens öffentlicher Auftraggeber, die Gleichbehandlung der Bieter und die Verfahrensdokumentation von Bedeutung sind.

Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb Dienstleistungen zur Digitalisierung des Bestandes eines Geologischen Archivs aus. Mit dem Angebot war eine gescannte Kopie eines vom Auftraggeber erstellten Dokuments in bestimmter vorgegebener Editierung und die Probe eines Mikrofilms mit Lichtbildern, ergänzt durch Informationen über die Methode der Mikroverfilmung und bestimmte technische Merkmale, einzureichen.

Einer der Bieter beantragte unter Hinweis auf ein Versehen eine Korrektur seines abgegebenen Angebots durch Austausch der Mikrofilmprobe. Dies ließ der Auftraggeber zu und wertete das als eine Vervollständigung der Unterlagen. Zugleich wies er darauf hin, dass die geforderten Informationen über die Methode der Mikroverfilmung und die technischen Merkmale fehlten und schloss das Angebot aus, weil es nicht den Anforderungen der Verdingungsunterlagen entsprach.

Die angerufene Kammer hatte Zweifel an der Vereinbarkeit mit europäischem Vergaberecht in Bezug auf die Verpflichtung eines öffentlichen Auftraggebers, Bieter zur Vervollständigung oder Nachreichung von im Rahmen der Ausschreibung zwingend geforderten Unterlagen und Erklärungen aufzufordern.

Die Entscheidung

Der EuGH entschied, dass unter folgenden Voraussetzungen die Aufforderung zur Berichtigung oder Ergänzung eines Angebots zulässig sei, sofern eine Erläuterung des Angebots offensichtlich geboten sei oder offensichtliche sachliche Fehler berichtigt werden:

• Die Aufforderung zur Erläuterung oder Berichtigung darf erst nach Kenntnisnahme aller Angebote erfolgen und ist an alle Bieter zu richten, die sich in derselben Situation befinden und muss alle erläuterungsbedürftigen Punkte umfassen.

• Aufgrund der Aufforderung darf in Wirklichkeit kein neues Angebot eingereicht werden, denn der Grundsatz der Gleichbehandlung und das Transparenzgebot stehen jeglicher Verhandlung zwischen Auftraggeber und einem Bewerber entgegen.

• Das Ermessen hinsichtlich der Aufforderung muss allgemein, gleich und fair ausgeübt werden.

• Das Fehlen eines in den Auftragsunterlagen geforderten Dokuments darf hingegen nicht durch eine Aufforderung zur Erläuterung behoben werden, da sich der Auftraggeber an von ihm selbst aufgestellte Kriterien halten muss.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung des EuGH erging noch zur alten Rechtslage. Die alten Richtlinien sahen noch keine ausdrückliche Möglichkeit zur Nachforderung von Unterlagen vor. Nach der Entscheidung des EuGH ist eine Nachforderung im Falle des Fehlens von Unterlagen, deren Vorlage zwingend gefordert war, grundsätzlich nicht möglich. Eine Ausnahme besteht danach lediglich hinsichtlich einer Aufforderung zur Erläuterung oder Berichtigung eines offensichtlichen sachlichen Fehlers.

Die neuen Richtlinien enthalten Regelungen zur Nachforderung von Unterlagen, deren Vorgaben in § 56 Abs. 2 bis Abs. 5 VgV umgesetzt wurden. Die Nachforderung von Unterlagen ist allerdings auch nach den Vorgaben der VgV eingeschränkt. Leistungsbezogene Unterlagen, die die Wirtschaftlichkeitsbewertung der Angebote anhand der Zuschlagskriterien betreffen, dürfen grundsätzlich nicht nachgefordert werden. Daher bleibt die weitere Rechtsentwicklung, insbesondere präzisierende Rechtsprechung der Nachprüfungsinstanzen abzuwarten.

Praxistipp

Die Entscheidung des Gerichtshofs enthält für die Auslegung der deutschen Vorschriften gleichwohl überaus wertvolle Hinweise: Die Nachforderung von Unterlagen darf in keinen Fall zu einem Verstoß gegen das Nachverhandlungsverbot führen. Bei der Beurteilung mehrerer Angebote müssen öffentliche Auftraggeber bei der Ausübung und Dokumentation ihres Ermessens sehr sorgfältig vorgehen.

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Über Dr. Martin Ott

Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW).

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