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Quo vadis Rügeobliegenheit? (OLG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 22.01.2019 – 54 Verg 3/18)

EntscheidungEine die Rügeobliegenheit auslösende Erkennbarkeit ist gegeben, wenn (etwaige) Verstöße gegen vergaberechtliche Vorschriften von einem fachkundigen Bieter bei üblicher Sorgfalt und üblichen Kenntnissen erkannt werden können. Das ist der Fall, wenn die in Gestalt der Bekanntmachung oder der Vergabeunterlagen vermittelte Tatsachengrundlage schon bei laienhafter rechtlicher Bewertung, also ohne Bemühung besonderen Rechtsrats, auf einen Vergaberechtsverstoß hindeutet. Eine Grenze findet die Rügeobliegenheit erst bei rechtlich komplexen und durch die Rechtsprechung noch nicht vollständig geklärten Fragen. Dazu gehören das Vergabekriterium Bauzeitverkürzung“, die Nichtangabe von Mindestkriterien für (zugelassene) Nebenangebote und ein bestimmtes Punktesystem (Umrechnung des Preises in Punkte) nicht. Rügt ein Unternehmen und bildet sich später unter seiner Beteiligung eine Bietergemeinschaft, muss sich die Bietergemeinschaft diese Rüge ausdrücklich zu eigen machen und aufrechterhalten, damit ihre eigene Rügeobliegenheit insoweit erfüllt ist. Die Präklusionsregeln einer unterlassenen Rüge können über den Untersuchungsgrundsatz im Nachprüfungsverfahren nicht umgangen werden.

§§ 160 Abs. 3, 175 Abs. 2 GWB; 33 Abs. 2 SektVO

Sachverhalt

Ein Sektorenauftraggeber (AG) schreibt Bauarbeiten für eine S-Bahn aus. Der Preis ist dabei nicht das einzige Zuschlagskriterium. Daneben sollten die von den Bietern zu garantierenden Bauzeiten bewertet werden. Nebenangebote waren ausdrücklich zugelassen. Die Bieter gaben sodann fristgerecht Angebote ab. Rügen wurden vor Angebotsabgabe nicht erhoben.

Nach der Mitteilung des AG, dass Bieter B den Auftrag erhalten sollte, stellte sein Wettbewerber W, eine Bietergemeinschaft, einen Nachprüfungsantrag. W ist der Ansicht, dass die Garantie einer Bauzeitverkürzung als Zuschlagskriterium unzulässig sei, weil damit eine verschuldensunabhängige Haftung für Verzögerungen einhergingen. Ferner sei das Punktesystem in sich nicht stimmig, weil ein Angebot, das doppelt so hoch sei wie das niedrigste Angebot, genauso mit null Punkten bewertet werden würde wie ein Angebot, welches das doppelt so hohe Angebot noch übersteige. Zudem stehe schließlich das Angebot des Bieters B im Widerspruch zum Leistungsverzeichnis. Nebenangebote dürften nicht gewertet werden, weil dafür keine Mindestanforderungen festgelegt worden seien. Der Vergabestelle sei daher aus diesen drei Gründen aufzugeben, die Angebotswertung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu wiederholen. Die Vergabekammer ist diesem Vortrag im Ergebnis gefolgt und hat dem AG durch ihren Beschluss vom 06.07.2018 aufgegeben, das Vergabeverfahren in den Stand vor Versendung der Vergabeunterlagen zurückzuversetzen. Dagegen wandte sich nunmehr B mit seiner sofortigen Beschwerde vor dem Oberlandesgericht.

Die Entscheidung

Mit Erfolg. Der Nachprüfungsantrag von W war bereits wegen Präklusion (§ 160 Abs. 3 GWB) unzulässig. W konnte auch keine Rückversetzung oder Wiederholung des Vergabeverfahrens beanspruchen.

Nach § 160 Abs. 3 Satz 1 GWB sind Verstöße gegen Vergabevorschriften, die aufgrund der Bekanntmachung (Nr. 2) oder in den Vergabeunterlagen (Nr. 3) erkennbar sind, spätestens bis zum Ablauf der Frist zur Angebotsabgabe zu rügen, um eine Präklusion zu vermeiden. Die o.g. (vermeintlichen) Vergabefehler beziehen sich auf die Vergabebekanntmachung bzw. die Vergabeunterlagen. Eine diesbezügliche zeitgerechte Rüge von W ist nicht erfolgt.

Eine die Rügeobliegenheit auslösende Erkennbarkeit ist gegeben, wenn Verstöße gegen vergaberechtliche Vorschriften von einem fachkundigen Bieter bei üblicher Sorgfalt und üblichen Kenntnissen erkannt werden können. Das ist insbesondere der Fall, wenn die in Gestalt der (Auftrags-) Bekanntmachung oder der Vergabeunterlagen vermittelte Tatsachengrundlage schon bei laienhafter rechtlicher Bewertung, also ohne Bemühung besonderen Rechtsrats, auf einen Vergaberechtsverstoß hindeutet. Anders als bei erkannten (§ 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB) Vergaberechtsverstößen geht eine auch fahrlässig unterlassene Rüge in den Fällen eines erkennbaren Vergabeverstoßens nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und Nr. 3 GWB zu Lasten des Bieters. Ein Bieter braucht die mit einer Rüge verbundenen Rechtsfragen nicht vollständig zu durchdringen. Er ist nur gehalten, die auf einen Vergaberechtsverstoß hindeutenden Tatsachen zu benennen, die sich in den Fällen des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 GWB aus dem Inhalt der (Auftrags-) Bekanntmachung bzw. der Vergabeunterlagen ergeben.

Von der danach zu beurteilenden Rügeobliegenheit ist die Frage zu unterscheiden, ob eine Rüge im Einzelfall auch materiell-rechtlich begründet ist. Die Obliegenheit zur schnellen Rüge von Vergabeverstößen zielt darauf ab, der Vergabestelle die Möglichkeit zur frühzeitigen Fehlerkorrektur zu geben. Dem entsprechend wird eine (materiell-rechtliche) Prüfung durch eine Vergaberüge nur angestoßen, um der Vergabestelle anschließend für den Fall, dass die Rüge begründet ist eine Korrekturmöglichkeit zu geben. Eine Grenze findet die Rügeobliegenheit erst bei rechtlich komplexen und durch die Rechtsprechung noch nicht vollständig geklärten Fragen. Dazu gehören die vorliegend betroffenen Rügen in Bezug auf

  • das Vergabekriterium Bauzeitverkürzung,
  • die Nichtangabe von Mindestkriterien für (zugelassene) Nebenangebote und
  • das Punktesystem bei der Wertung (Umrechnung des Preises in Punkte)

indes nicht. Für die Erkennbarkeit eines (ggf. zu rügenden) Vergaberechtsverstoßes war auch schon nach altem Recht auf einen durchschnittlich fachkundigen und die übliche Sorgfalt anwendenden Bieter abzustellen. Es kommt somit nicht auf den im Einzelfall betroffenen Bieter oder dessen Absichten in einem Vergabeverfahren an. Es gilt vielmehr ein objektiver Maßstab: Zu fragen ist, ob ein sorgfältig handelndes Unternehmen, das mit den wichtigsten Regeln der öffentlichen Auftragsvergabe vertraut ist, den Vergabeverstoß ohne Einholung besonderen Rechtsrats erkennen kann. Das ist der Fall, wenn ein Vergabemangel bereits durch bloßes Lesen der einschlägigen Normen und einen Vergleich mit dem Text der Vergabeunterlagen ohne Weiteres feststellbar ist und die verletzten Vergabevorschriften zum grundlegenden Wissen eines durchschnittlich fachkundigen und sorgfältigen Bieters gehören (vgl. EuGH, Urteil vom 26.03.2015 in der Rs. C- 538/13, NZBau 2015, 307). Die Obliegenheit zur Rüge erkennbarer Vergabemängel kann damit nicht davon abhängig sein, ob der einzelne Wettbewerbsteilnehmer (selbst) die Abgabe eines Nebenangebots beabsichtigt. Die Rügeobliegenheit ist unabhängig davon, ob ein (erkennbarer) Vergabemangel einen Bieter persönlich betrifft; sie besteht auch dann, wenn sich der ggf. vorliegende Mangel zu dessen Gunsten auswirken könnte.

Eine Rüge muss im Übrigen von dem Unternehmen erhoben werden, das (im Nachprüfungsverfahren) die Beseitigung der behaupteten Vergaberechtsverletzung geltend macht. Im Fall einer Bietergemeinschaft müssen deshalb alle ihre Mitglieder gemeinsam rügen oder ein Mitglied zur Erhebung der Rüge im Namen der Bietergemeinschaft bevollmächtigen oder ermächtigen. Die Rüge eines einzelnen Mitglieds der Bietergemeinschaft genügt nicht. Möglich wäre allein die Erhebung einer Vergaberüge durch einen Stellvertreter oder als gewillkürter Verfahrensstandschafter im eigenen Namen, aber für fremde Rechte (der Bietergemeinschaft). Beides müsste aber offengelegt werden, so dass klar ist, dass die Rechtswahrnehmung nicht für sich selbst, sondern für die (künftig) am Vergabeverfahren beteiligte Bietergemeinschaft erfolgen soll. Allein ein nur intern gebliebenes Einverständnis der (späteren) Mitglieder der Bietergemeinschaft genügt für die Annahme eines Handelns in gewillkürten Verfahrensstandschaft nicht. Rügen, die von (späteren) Mitgliedern einer Bietergemeinschaft erhoben worden sind, bevor diese gebildet war, wachsen der Bietergemeinschaft auch nicht automatisch zu. Zu fordern ist vielmehr, dass sich die (spätere) Bietergemeinschaft die von einzelnen Unternehmen, die jetzt der Bietergemeinschaft angehören, erhobenen Rügen ausdrücklich zu eigen macht und diese auch aufrechterhält.

Wird die rechtzeitige Rüge eines erkennbaren Vergaberechtsverstoßes unterlassen, ist der Nachprüfungsantrag insoweit unzulässig, was auch dazu führt, dass der darauf bezogene Anspruch auf Nachprüfung verloren geht. Die Präklusion kann (auch) nicht dadurch überwunden werden, dass die genannten Rechtsverstöße von Amts wegen aufgegriffen werden; weder ist insoweit ein Ermessen der Nachprüfungsinstanzen eröffnet noch besteht die Möglichkeit, den o.g. Beanstandungen im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes (§ 175 Abs. 2 i.V.m. § 70 Abs. 1 GWB) nachzugehen. Die Präklusionsregeln dürfen über den Untersuchungsgrundsatz nicht umgangen werden.

Rechtliche Würdigung

Der Vergabesenat des OLG Schleswig hat sich eingehend mit der Obliegenheit zur rechtzeitigen Rüge und der (Pflicht zur) Erkennbarkeit von vermeintlichen Vergaberechtsverstößen befasst. Im Ergebnis vertritt der Senat die Auffassung, dass die Rügeobliegenheit erst bei rechtlich komplexen und durch die Rechtsprechung noch nicht vollständig geklärten Fragen endet. Nur in solchen Fällen fehlt es daher an einer Erkennbarkeit. In allen anderen, deutlich häufiger vorkommenden, Konstellationen, sind Vergaberechtsverstöße erkennbar und daher bis zum Ablauf der Teilnahme-/ Angebotsfrist zu rügen. Diese Sichtweise ist zutreffend. Sie überzeugt auch vor dem Hintergrund von Sinn und Zweck der Rüge, dem Auftraggeber frühzeitig im Verfahren eine Korrektur zu ermöglichen. Mitunter wird hier von der Rechtsprechung allerdings auch ein anderer weniger strenger Maßstab angelegt.

Erfreulich ist darüber hinaus, dass der Vergabesenat entschieden hat, dass im Fall einer Bietergemeinschaft alle ihre Mitglieder gemeinsam rügen müssen oder jedenfalls ein Mitglied zur Erhebung der Rüge im Namen der Bietergemeinschaft bevollmächtigt sein muss. Rügen, die in einem frühen Stadium des Vergabeverfahrens von (späteren) Mitgliedern einer Bietergemeinschaft erhoben worden sind, bevor diese gebildet war, wachsen der Bietergemeinschaft auch nicht automatisch zu.

Schließlich betont der Vergabesenat ebenso zutreffend, dass die Rügepräklusion (auch) nicht dadurch überwunden werden kann, dass die genannten Rechtsverstöße von Amts wegen aufgegriffen werden; weder ist insoweit ein Ermessen der Nachprüfungsinstanzen eröffnet noch besteht die Möglichkeit, den Beanstandungen im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes nachzugehen. Die Präklusionsregeln dürfen über den Untersuchungsgrundsatz nicht umgangen werden. Denn die Rügepräklusion hat nicht nur die verfahrensrechtliche Konsequenz, dass ein auf den nicht gerügten Vergaberechtsverstoß gestützter Nachprüfungsantrag (insoweit) unzulässig ist. Die verfahrensrechtliche Unanfechtbarkeit hat auch zur Folge, dass das vergaberechtswidrige Verhalten der Vergabestelle im Verhältnis zu einem Bieter, der seiner Rügeobliegenheit nicht nachgekommen ist, als vergaberechtskonform fingiert wird (vgl. insofern auch Opitz, in: Burgi/Dreher, Vergaberecht, 2017, § 127 GWB, Rn. 155).

Praxistipp

Die Luft für Bieter mit Rügen bis nach dem Ablauf der Bewerbungs-/Angebotsfrist zu warten, wird dünner. Das Risiko mit materiell-rechtlich gut begründeten Rügen präkludiert zu sein, weil die Rüge nicht rechtzeitig erhoben worden ist, ist erheblich. Dies hat damit zu tun, dass den Bietern von vielen Nachprüfungsinstanzen mehr Wissen im Hinblick vergaberechtliche Fragen zugetraut wird. Es ist einem Bieter in jedem Fall zu raten, die Bekanntmachung und die Vergabeunterlagen besonders aufmerksam lesen und sich an den Auftraggeber zu wenden, wenn Zweifel aufkommen, um damit auch die Interessen des Auftraggebers an einem zügigen Fortgang des Vergabeverfahrens zu wahren (zutreffend in diesem Sinne VK Lüneburg, Beschluss vom 14.05.2018 zum Az. VgK-11/2018).

Bieter müssen sich mithin entscheiden: rügen sie einen materiell-rechtlichen Verstoß, obgleich dieser für sie möglicherweise gar nicht nachteilig ist oder nehmen sie den Verstoß (zunächst) hin, um später etwa nach Erhalt eines Absage-/Informationsschreibens dem Risiko der Präklusion ausgesetzt zu sein. Als Kompromiss bietet es sich teilweise an, zunächst eine Bieterfrage zu stellen und sodann auf Grundlage der Bieterfrage zu entscheiden, ob eine vergaberechtliche Rüge weiterhin zielführend erscheint. Diese Entscheidung ist in jedem Einzelfall zu treffen. Verallgemeinerungsfähige Aussagen lassen sich hierzu nicht treffen. Selbstverständlich kann die Antwort auf die Bieterfrage das Risiko der Präklusion auch (deutlich) erhöhen.

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Über Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG

Der Autor Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG, ist Fachanwalt für Vergaberecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Wirtschaftskanzlei LEXTON Rechtsanwälte in Berlin. Er berät seit über 20 Jahren öffentliche Auftraggeber und Bieterunternehmen umfassend bei allen vergabe-, zuwendungs-, haushalts- und preisrechtlichen Fragestellungen. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.

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