Die VK Thüringen nimmt in dieser Entscheidung zur aktuellen Situation rund um die Preisgleitklausel bei Bauaufträgen Stellung. Dabei entscheidet die VK für die Zurückversetzung des Verfahrens, obwohl die ursprüngliche Rüge des Bieters nur seinen rechtmäßigen Ausschluss umfasste und das Fehlen der Preisgleitklausel erst im Nachgang mit anwaltlicher Beratung beanstandet wurde. Hierin sieht die Vergabekammer trotzdem die Rügeobliegenheit erfüllt, der Vergabeverstoß aufgrund der fehlenden Preisgleitklausel sei für den Bieter ohne anwaltliche Beratung nicht ohne weiteres erkennbar.
VOB/A EU §§ 16 Nr. 2, 13 Abs. 1 Nr. 5, 7 Abs. 1 Nr. 3
Der Auftraggeber hat einen Bauauftrag zur Herstellung einer elektrotechnischen Anlage im offenen Verfahren europaweit ausgeschrieben. Die Ausschreibung war Teil des Neubauprojekts der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in dessen Rahmen weitere ähnlich gelagerte Ausschreibungen parallel veröffentlicht wurden. Auf eine Bieterfrage der Beigeladenen konkretisierte der Auftraggeber die Typenbezeichnungen für die zu verwendenden Schutzwandler. Eine Stoffpreisgleitklausel wurde in der Aufforderung zur Angebotsangabe nicht vorgesehen. Die Antragstellerin reichte fristgerecht ein Angebot ein, wobei in einer Position die angebotene Typenbezeichnung einem elektronischen Universalnetzmessgerät zuzuordnen war. Beim Auftraggeber gingen fünf weitere fristgerechte Angebote ein, das Angebot der Antragstellerin war hierbei am günstigsten. Aufgrund der abweichenden Typenbezeichnung forderte der Auftraggeber die Vorlage der Produktdatenblätter. Darauf hin gab die Antragstellerin an, dass ihr bei einer der zehn Eintragungen ein Kopier-/Übertragungsfehler hinsichtlich der Typenbezeichnung unterlaufen sei. Die Antragstellerin wollte dies korrigieren und hielt die Korrektur für unbedenklich, da der gleiche Einheitspreis gelte und somit eine preislich richtige Wertung vorläge. Die Auftraggeberin teilte ihr mit, dass das Angebot von der Wertung ausgeschlossen würde, da die Vergabebedingungen nicht erfüllt sein. Das angebotene Multimessgerät entspräche nicht dem geforderten Schutzwandler, außerdem entsprechen die nachgereichten Produktdatenblätter nicht den Anforderungen der Leistungsbeschreibung.
Daraufhin rügte die Antragstellerin den Ausschluss. Der Auftraggeber habe die betreffende Position falsch beschrieben, insofern sei ihr eine korrekte Eintragung erschwert worden. Ein fehlerhaftes und widersprüchliches Leistungsverzeichnis dürfe nicht zu ihren Lasten gehen. Das Leistungsverzeichnis verstoße gegen den Grundsatz der produktneutralen Ausschreibung. Darüber hinaus hätte sie den Fehler korrigiert. Der Auftraggeber half der Rüge nicht ab. Er machte geltend, dass im Rahmen der Aufklärung keine Änderungen des Angebots mehr vorgenommen werden dürften. Der Ausschluss erfolgte aus formalen Gründen und es läge keine Verletzung ihrer Bieterrechte vor.
Daraufhin zog die Antragstellerin anwaltliche Bevollmächtigte hinzu, die ihre Rüge aufrechterhielten und erweiterten. Dabei wurde geltend gemacht, dass neben dem offensichtlichen Übertragungsfehler der Antragstellerin ein Verstoß gegen Bieterrechte in der fehlenden Preisgleitklausel zu sehen sein. Damit wurde erstmals auf die Preisgleitklausel verwiesen. Aufgrund der aktuellen Vorgaben und Situation würde der Antragstellerin dadurch ein ungewöhnliches Wagnis auferlegt. Die Auftraggeberin antwortete nicht auf die erneute Rüge, wonach die Antragstellerin den Nachprüfungsantrag einlegte.
Die Vergabekammer gab dem Nachprüfungsantrag überwiegend statt und verpflichtet den Auftraggeber das Verfahren in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen und zu wiederholen. Allerdings sei der Ausschluss des Angebots der Antragstellerin zu Recht erfolgt. Die Zurückversetzung ergäbe sich ausschließlich aus der Beanstandung der fehlenden Preisgleitklausel.
Insofern wurde bereits in der Zulässigkeit ausführlich darüber gestritten, ob die Antragstellerin ihrer Rügeobliegenheit fristgemäß nachgekommen war.
Zunächst stellt die Vergabekammer vorgreifend auf die Begründetheit fest, dass der Ausschluss der Antragstellerin vergabekonform sei. Insofern hätte die Antragstellerin bislang keine Chance auf den Zuschlag gehabt, so dass ein drohender Schaden nicht bestünde. Allerdings habe die Antragstellerin daneben (wiederum vorgreifend) begründeterweise das Fehlen der Preisgleitklausel gerügt. Dieser Vergabeverstoß stünde einem vergabekonformen Zuschlag derzeit entgegen und das Verfahren sei entsprechend rück zu versetzen. Hierbei erhielten alle Bieter eine zweite Chance den Auftrag zu erhalten, woraus sich in diesem Fall die Antragsbefugnis der Antragstellerin ergäbe. Diese Argumentation gibt der VK hier erst die Möglichkeit auf die Preisgleitklausel und Begründetheit einzugehen.
Im Rahmen der Begründetheit geht die Vergabekammer zunächst auf den Ausschluss des Angebots der Antragstellerin ein. Die angebotenen Schutzwandler erfüllten ausweislich der nachgereichten Produktdatenblätter nicht die Leistungsanforderungen des Auftraggebers. Die Antragstellerin habe insofern eine Änderung an den Vergabeunterlagen vorgenommen, für die ihr keine Möglichkeit zur Nachbesserung der inhaltlichen Angaben offenstehe. Auf den angeblichen Kopier-/Übertragungsfehler komme es nicht an. Die Rüge des Angebotsausschlusses sei mithin unbegründet.
Etwas anderes ergäbe sich hinsichtlich der Ablehnung der Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel. Die Vergabekammer führt aus, dass den Bietern nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A-EU kein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet werden darf. Die dynamische Preisentwicklung durch den Krieg in der Ukraine und die korrespondierenden Sanktionsfolgen führe dazu, dass den Bietern eine Preiskalkulation unzumutbar erschwert oder unmöglich gemacht würde. Für die Kammer bestehen keine Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen für die Annahme eines solchen Wagnis. Insofern wird auch auf das Rundschreiben des Bundesministeriums vom 25.03.2022 (siehe ) verwiesen. Hiernach sollten auch bereits laufende Vergabeverfahren zurückversetzt werden, um die Stoffpreisgleitklausel einzufügen. Der Stoffkostenanteil der betroffene Stoffe überstieg im gegenständlichen Fall unbestritten einen Prozent des Auftragswerts, womit die Anwendungsvoraussetzungen für das Formblatt 225 VHB erfüllt waren.
Der im Januar 2022 erstellte Vermerk des Auftraggebers mit der Einschätzung einer moderaten Preisentwicklung sei mit dem Beginn der Kriegshandlungen im Februar 2022 inhaltlich überholt gewesen. Auch ein Vermerk vom 30.03.2022, wonach der Auftraggeber in der Rückversetzung nach Angebotsöffnung eine Wettbewerbsverzerrung sieht, da den Bietern die Angebotsendsummen der Konkurrenz bekannt sind, und er das Kalkulationsrisiko als gering einschätzt, hält vor der Kammer nicht stand. Der Auftraggeber sei von dem Rundschreiben des Bundes und der entsprechenden Verwaltungsvorschrift des Landes ohne sachlichen, rechtfertigenden Grund abgewichen. Die VOB/A-EU sähe die Möglichkeit der Kenntnisnahme der Angebotsendsummen anderer Bieter bewusst vor, so dass sich hieraus alleine keine Wettbewerbsverzerrung ergeben könne. Die Einschätzung des Kalkulationsrisikos für die Bieter als gering sei in Anbetracht der aktuellen Situation unzutreffend.
Die Überprüfung der Ausschlussentscheidung war bei diesem Beschluss lediglich der Nebenkriegsschauplatz. Die entscheidende – und zur Zeit wohl auch deutlich interessantere -Fallgestaltung ist die Bewertung der nachträglichen Einbeziehung einer Stoffpreisgleitklausel nach Angebotsöffnung.
Das Bundesministerium hat am 25.03.2022 in seinem Erlass verfügt, dass vor Einleitung der Vergabeverfahren nunmehr zu prüfen sei, ob die Voraussetzungen für eine Stoffpreisgleitklausel nach Formblatt 225 VHB vorliegen. Entsprechend sei eine solche Klausel für die genannten Stoffe zu vereinbaren. Weiter geht das Ministerium dort auch auf laufende Vergabeverfahren ein. Auch bei diesen soll eine nachträgliche Einbeziehung möglich sein. Bieteranfragen diesbezüglich sein zu prüfen und sofern die Voraussetzung vorliegen zu genehmigen. An dieser Stelle wird man guten Gewissens von einem intendierten Ermessen sprechen können. Für die Ablehnung sei eine Begründung im Vergabevermerk erforderlich. Auch nach Angebotsöffnung soll nach dem Erlass die Möglichkeit einer Rückversetzung geprüft werden. Zur Sicherstellung des Wettbewerbs und der Vermeidung von Streitigkeiten bei der Bauausführung sollte eine Stoffpreisgleitklausel nachträglich einbezogen werden. Dies sei in Einzelfällen angezeigt, sofern die betroffenen Baustoffe entscheidenden Einfluss auf die Maßnahme haben. Aus dem Erlass hat die Vergabegemeinschaft nahezu eine Pflicht zur Verwendung der Stoffpreisgleitklauseln in neuen und laufenden Vergabeverfahren geschlossen.
Der Erlass gilt unmittelbar lediglich für das Bundesamt für Bauwesen und die Länderbauverwaltungen, soweit sie in Organleihe für den Bund tätig werden. Die meisten Bundesländer haben allerdings die Bestimmungen für ihre Landesbehörden bzw. Kommunen übernommen.
Dieser Logik ist auch die Vergabekammer in der gegenständlichen Entscheidung gefolgt. Die Entscheidung des Auftraggebers hielt der Bewertung nicht stand. An dieser Stelle mag die Entscheidung in ihrer Ergebnis nicht überraschen. Die Stringenz, mit der die Anwendung der Stoffpreisgleitklausel als unausweichlich dargestellt und die Argumentation des Auftraggebers abgelehnt wurde, war allerdings in dieser Klarheit nicht unbedingt zu erwarten gewesen.
Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Klarheit auch nach dem Erlass zur Verlängerung der Stoffpreisgleitklauseln vom 22.06.2022 (siehe ) Bestand haben wird. Für laufende Vergabeverfahren wird darin nämlich klargestellt, dass die nachträgliche Einbeziehung der Stoffpreisgleitklausel nicht ausnahmslos erfolgen müsse. Nach Abwägung der Vor- und Nachteile könne hiervon im Einzelfall abgesehen werden. Jedenfalls müsse der Auftraggeber nicht aktiv werden, wenn das Fehlen der Preisgleitklausel nicht gerügt wird.
Diese Feststellung vermag zu überraschen, das Ministerium scheint an dieser Stelle einer zu ausufernden Auswirkung auf laufende Vergabeverfahren Einhalt gebieten zu wollen. Die dahinterstehende Argumentation könnte darauf abstellen, dass mangels Rüge aus Sicht der Bieter wohl kein unangemessenes Wagnis bestünde. Allerdings widerspricht diese Auslegung jedenfalls der Argumentation der Vergabekammer in der Zulässigkeitsprüfung. Dort hatte die Kammer festgestellt, dass für den fähigen Bieter nicht ohne Hinzuziehung anwaltlicher Beratung erkennbar war, dass das Fehlen der Klausel einen Vergabeverstoß begründen könnte. Folgt man dieser Einschätzung, wird es schwer zu vertreten sein, dass das Fehlen einer solchen (für den fähigen Bieter ohne Rechtskenntnis nicht erkennbaren) Rüge den Auftraggeber im Einzelfall von der Einbeziehung der Klausel entbinden soll. Andernfalls müsste sich jeder Bieter bereits präventiv um eine umfassende Rechtsberatung bemühen, um seine Rechte zu erkennen.
In der Praxis wird für laufende Verfahren mitunter auf Auftraggeberseite genauestens zu prüfen sein, ob es stichhaltige Argumente gegen den Einsatz einer Stoffpreisgleitklausel im Nachhinein gibt. Diese Argumente sollten nicht in der Natur eines Vergabeverfahrens, sondern des Auftrages im konkreten Einzelfall entwachsen. Spätestens sobald Bieter auf Kalkulationsrisiken hinweisen oder das Fehlen rügen, wird der Auftraggeber allerdings an einer Rückversetzung in der Regel nicht herum kommen.
Allerdings müssen auch Bieter ganz genau schauen, in welchen Ausschreibungen eine Stoffpreisgleitklausel möglicherweise gefordert werden könnte. An dieser Stelle sollte besser einmal zu viel gerügt werden als zu wenig!
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Frau Fritz hat an der Entscheidung als Prozessbevollmächtigte mitgewirkt.
Der Beitrag wurde gemeinsam mit Frau ref. iur. Neele Schauer, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kanzlei FPS Fritze Wicke Seelig, Frankfurt am Main / Berlin, verfasst.
Neele Schauer ist seit 2018 als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei FPS Fritze Wicke Seelig, Frankfurt am Main im Bereich des Vergaberechts tätig. Zusammen mit Dr. Annette Rosenkötter, Aline Fritz und Tim Kuhn hat sie bereits zahlreiche Veröffentlichungen, insbesondere zur Sektorenverordnung und im Bereich der Verteidigung und Sicherheit, publiziert.
Frau Fritz ist seit 2000 im Bereich des Vergaberechts tätig und seit 2002 Rechtsanwältin bei FPS Rechtsanwälte und Notare, Frankfurt. Sie berät sowohl die öffentliche Hand bei der Erstellung von Ausschreibungen als auch Bieter in allen Phasen des Vergabeverfahrens. Frau Fritz hat umfassende Erfahrungen in der Vertretung vor diversen Vergabekammern und Vergabesenaten der OLGs. Des Weiteren hat sie bereits mehrere PPP-Projekte vergaberechtlich begleitet. Frau Fritz hält regelmäßig Vorträge und Schulungen zum Vergaberecht und hat zahlreiche vergaberechtliche Fachbeiträge veröffentlicht. Vor ihrer Tätigkeit bei FPS war Frau Fritz Leiterin der Geschäftsstelle des forum vergabe e.V. beim BDI in Berlin.
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