Vergabeblog

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Liefer- & Dienstleistungen

Pflicht des AG zur rechtzeitigen Beschaffung – Keine Dringlichkeit bei zu später Beschaffung (VK Bund, Beschl. v. 20.07.2022 – VK 2-60/22)

EntscheidungDas Argument der Dringlichkeit wird von vielen Auftraggebern nicht immer mit der gebotenen Zurückhaltung zur Begründung von Direktvergaben herangezogen. Auch in der hier dargestellten Entscheidung der VK Bund war ein Fall der Dringlichkeit entgegen der Annahme des Auftraggebers nicht gegeben. Zwar zielte die Vergabe darauf ab, Produkte zu beschaffen, welche für den Schutz von Leib und Leben der Anwender (Polizisten) von großer Bedeutung sind. Doch hatte der Auftraggeber es versäumt die Neuvergabe des auslaufenden Rahmenvertrages rechtzeitig einzuleiten. Gegenstand der Entscheidung war dabei neben der Frage, ob Dringlichkeit vorliegt, auch die Anforderung an die Herstellung eines ausreichenden Wettbewerbs im Falle eine Dringlichkeitsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV.

§§ 97 Abs. 1, 135 GWB; §§ 3 Abs. 8, 14 Abs. 4 Nr.3 VgV

Leitsatz (nicht amtlich)

  1. Allein aus der Tatsache, dass es um ein Produkt geht, welches dem Schutz von Leib und Leben dient, lässt sich indes nichts für den Tatbestand der äußersten Dringlichkeit nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ableiten.
  2. Die Verzögerungen in einem regulären Vergabeverfahren sind jedoch regelmäßig, so auch vorliegend, dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen, ohne dass es dabei auf ein Verschulden im engeren Sinn ankäme.
  3. Es ist widersprüchlich, einerseits die äußerste Dringlichkeit anzunehmen, andererseits aber auf der vollumfänglichen Erfüllung der eigenen Vorgaben in jedem Detail zu bestehen ohne andere Produkte, deren grundsätzliche Eignung außer Zweifel steht, mit einzubeziehen in ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 14 Abs. 4 Nr.3 VgV.

Sachverhalt

Gegenstand der Entscheidung ist eine Interimsvergabe, welche im Wege der Direktvergabe erfolgte. Dabei wurde nur der bisherige Vertragspartner als einziger potenzieller Leistungserbringer berücksichtigt. Die Interimsvergabe wurde vom Auftraggeber (Ag.) damit begründet, dass ein fortgesetzter Bedarf bestünde, welcher nicht rechtzeitig durch die parallel bereits eingeleitete Neuvergabe des Auftrages gedeckt werden könne. Der bisher bestehende Rahmenvertrag zum Bezug von Ausrüstungsgegenständen für Polizisten wurde bereits zu Beginn des Jahres 2022 neu ausgeschrieben werden. Der bisherige Rahmenvertrag war bezogen auf die vereinbarte Vertragslaufzeit zwar noch nicht abgelaufen, aber die darin festgelegte maximale Abrufmenge war weitgehend erreicht. Mit Feststellung vom 21. September 2021 ergab sich eine Vertragsauslastung von 73,7 % bzw. 86,2 % (Aufrüstpakete).

Der Ag. hatte aus seiner Sicht im Herbst 2021 eine Erhöhung der Abrufe von Produkten verzeichnet. Daraufhin erfolgte eine mehrmonatige Abstimmung dem technischen Dienst zur Leistungsbeschreibung für die neue Ausschreibung. Dies führte nicht zu wesentlichen Änderung der Leistungsbeschreibung. Die neue Rahmenvereinbarung wurde in 2 Losen (Ausrüstung und Aufrüstpakte) in einem offenen Verfahren ausgeschrieben. In dem regulären Verfahren kam es durch darauf gerichtete Bieteranfragen zu einer Angebotsfristverlängerung. Durch die Fristverlängerung um ca. 5 Wochen verschob sich der vorgesehene Zeitpunkt der Zuschlagserteilung aus Sicht des Ag. um etwa 7 Wochen auf den 12. August 2022.

Der Ag. hatte bereits mit Stand 14. März 2022 eine Auslastung des noch laufenden Rahmenvertrages von je mehr als 90 % für beide Lose festgestellt. Der Ag. vertrat in seinem Vergabevermerk zur Interimsvergabe die Ansicht, dass Dringlichkeit im Sinne des §§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vorläge und somit ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb durchgeführt werden könne. Es handele sich hierbei um eine Notlösung, um den laufenden Dienstbetrieb aufrecht zu erhalten. Die Ausrüstungsgegenstände seien auf die Mitarbeiter jeweils individuell angepasst, so dass der kontinuierliche Neubezug derselben möglich sein müsse. Die erhöhte Abrufmenge wie auch die Entwicklung im laufenden Vergabeverfahren sei zudem nicht vorhersehbar gewesen.

Nachdem die bisherige Vertragspartnerin (Beigeladene im Verfahren) am 22. März 2022 zur Angebotsabgabe für eine Interimslösung bis zum 19. April 2022 aufgefordert worden war, reichte diese ihr Angebot am 8. April 2022 ein. Dieses wurde 2 Tage nach Ende der Angebotsfrist am 21. April 2022 geöffnet. Es bedurfte der Nachforderungen der Eigenerklärung im Zusammenhang mit den EU-Sanktionen. Die Erklärung reichte die Beigeladene (Bg.) am 16. Mai 2022 ein. Der Zuschlag auf die Interimsvergabe erfolgt dann durch den Ag. erst am 25. Mai 2022.

Die Antragstellerin (Ast.) ist Bieterin im regulären Verfahren. Sie gab dort für beide Lose ein Angebot ab. Bezüglich des Loses 1 wurde sie darüber unterrichtet, dass ihr Angebot ausgeschlossen wurde. Die Ast. rügte den Ausschluss zu Los 1.

Nachdem die Ast. durch die Bekanntmachung vergebener Aufträge Kenntnis von der Interimsvergabe erlangt hatte, rügte sie mit Schreiben vom 3. Juni 2022 die Unzulässigkeit der Vergabe. Sie meint, es läge keine Dringlichkeit vor. In jedem Fall wäre sie auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb an diesem zu beteiligen gewesen. Auch ginge die im Rahmen der Interimsvergabe vorgesehene maximal Abrufmenge weit über das absolut notwendige Bedarfsminimum hinaus.
Der Ag. nahm hierzu keine inhaltliche Stellung. Die Ast. reichte über ihren Verfahrensbevollmächtigten am 9. Juni 2022 den Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer ein.

Die Entscheidung

Die VK Bund gab dem Nachprüfungsantrag statt.

 Zulässigkeit

Der Nachprüfungsantrag sei zulässig. Eine Rüge der ohne vorherige Bekanntmachung erfolgten Vergabe bedurfte es gemäß § 160 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB nicht. Dennoch hatte die Antragstellerin die Vergabe gerügt, so dass sie überobligatorisch handelte. Die Ast. ist antragsbefugt da sie angibt die vergebenen Leistungen selbst erbringen zu können und zu wollen, was auch an der Abgabe eines Angebotes im offenen Verfahren erkennbar ist.

Begründetheit

Die VK Bund wirft der Ag. vor, sie habe die Anforderungen, die an die Tatbestandsmerkmale des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zu stellen sind, bei deren Vorliegen eine Ausnahme von der Pflicht zur europaweiten Vergabe überhaupt greifen könne, grundlegend verkannt.

Eine Dringlichkeit ergebe sich nicht allein aus der Tatsache, dass es um ein Produkt geht, welches dem Schutz von Leib und Leben dient. Die Auswahlbestimmung zur Dringlichkeitsvergabe beziehe sich auf einen Bedarf, der akut unvorhersehbar entsteht. Dabei sei die Ursache für einen solchen akut entstehenden Bedarf regelmäßig eine akute Gefahrensituation oder höhere Gewalt, die zur Vermeidung von Gefahren und Schäden für Leib und Leben ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordert, so OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Dezember 2019 – Verg 18/19 m.w.N. (vgl. a. OLG Frankfurt, Beschl. v. 07.06.2022 11 Verg 12 /21). Hier liegt nach Einschätzung der VK Bund aber weder eine akute Gefahrensituation noch ein Fall der höheren Gewalt vor die den Beschaffungsbedarf auslösen könne.

Tatsächlich handele es sich bei der streitgegenständlichen Vergabe um die Deckung eines normalen, regulären und kontinuierlichen Beschaffungsbedarfs der Ag. Verzögerungen in einem regulären Verfahren, wie sie in dem parallel durchgeführten offenen Verfahren aufgetreten sind, stellten ebenfalls keinen Fall einer akuten Gefahrensituation oder höherer Gewalt dar. Denn es handele sich hier nicht um ein akutes Gefahrenszenario, sondern um eine Verzögerung eines regulären Vergabeverfahrens. Dies sei von vornherein ungeeignet in den Anwendungsbereich der Ausnahmenorm einbezogen zu werden. Auch seien Verzögerungen eines regulären Vergabeverfahrens regelmäßig, so ebenfalls vorliegend, dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen, ohne dass es dabei auf ein Verschulden im engeren Sinne ankäme. Dies begründet die VK Bund damit, dass der Ag. Herr des Vergabeverfahrens ist und die Abläufe des Verfahrens seiner Sphäre zuzurechnen sind. Danach war bereits die Unzulässigkeit der Anwendung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV festgestellt.

Die VK Bund geht im Folgenden weiter auf die Darstellung des Ag. zu dessen Begründung der Dringlichkeit ein. Dazu stellt sie zunächst fest, dass die in einer Übersicht seit Februar 2019 aufgeführten monatlichen Bestellwerte einer hohen Schwankungsbreite unterlägen, sodass kein Bestellmuster erkennbar sei. Dabei haben die Bestellwerte aus Herbst 2021 nicht über dem gelegen was in anderen Monaten auch schon angefallen war. Der absolute monatliche Spitzenwert in der Gesamtübersicht stamme zudem aus einem anderen Zeitraum. Daher stellt die VK Bund bereits infrage, ob die Abrufmenge im Herbst 2021 tatsächlich überraschend hoch gewesen sei.

Weiter geht die VK Bund darauf ein, dass es sich hier um eine Anschlussbeschaffung handele. Daher seien aus der vorangegangenen Ausschreibung Erfahrungen zum zeitlichen Ablauf vorhanden gewesen. Vor dem Hintergrund der erforderlichen technischen Prüfung der angebotenen Produkte hätte der Ag. auch ausreichend Zeit einplanen müssen. Er sei nach eigenem Bekunden im September 2021 bereits von der vollständigen Ausschöpfung der Rahmenvereinbarung im Juli 2022 ausgegangen. Der ursprüngliche Zeitplan habe einen Zuschlag erst für den 22. Juni 2022 vorgesehen, so dass zeitliche Puffer für mögliche Verzögerungen des Vergabeverfahrens bereits völlig gefehlt hätten. Dies gelte auch für den Fall der vom Ag. geltend gemachten (angeblich überraschend) erhöhten Abrufzahlen aus der bestehenden Rahmenvereinbarungen.

Weiter kritisiert die VK Bund die erst späte Bekanntmachung am 15. Februar 2022 nach dem nach Bekunden des Ag. die Vorbereitung des Vergabeverfahrens durch eine Bedarfserhebung im September 2021 bereits begonnen hatte. Dabei sei die Leistungsbeschreibung in wesentlichen Punkten unverändert geblieben. Für die lange Vorbereitungszeit der neuen Ausschreibung böte sich daher keine tragfähige Erklärung. Insbesondere sei nicht ersichtlich, weshalb die Besprechung mit dem technischen Dienst erst nach Abschluss der Bedarfserhebung im Dezember 2021 stattfand.

Nach dem die VK Bund somit schon eine verspätete Einleitung des regulären Vergabeverfahrens feststellt, kritisiert sie darüber hinaus das widersprüchliche Verhalten des Ag. in Bezug auf die Dringlichkeitsvergabe. Der Ag. habe es unterlassen, den auch im Rahmen der Dringlichkeitsvergabe geschuldeten Wettbewerb durch Ansprechen weitere Unternehmen als die Bg. durchzuführen. Das Argument, nur die Bg. habe in der Vergangenheit bestimmungsgemäße Produkte angeboten, als Basis für die Direktvergabe, greife nicht durch. Unbestritten sei die Ast. eine anerkannte Herstellerin, die in gleicher Weise wie die Bg. öffentliche Nachfrager mit zu den abgefragten Produkten vergleichbaren im In- und Ausland beliefert. Dies sei auch aus der Beteiligung der Ast. am regulären Verfahren bekannt. Es sei zudem widersprüchlich, einerseits die äußerste Dringlichkeit anzunehmen, andererseits aber auf der vollumfänglichen Erfüllung der eigenen Vorgaben in jedem Detail zu bestehen, ohne andere Produkte, deren grundsätzliche Eignung außer Zweifel steht, mit einzubeziehen. Dabei liege in der Direktvergabe an die Bg. ohne Herstellung irgendeiner Art von Wettbewerb ein schwerer Verstoß gegen den Wettbewerbsgrundsatz, § 97 Abs. 1 GWB.

Die VK Bund wirft dem Ag. vor, den Fall äußerster Dringlichkeit auch durch eigenes Verhalten widerlegt zu haben. So sei schon die lange Angebotsfrist für die Abgabe des Angebots bei der Interimsvergabe zu kritisieren. Zudem habe die einzige angesprochene Bieterin am 8. April das Angebot abgegeben, das dennoch erst am 21. April geöffnet worden sei. Es läge ein widersprüchliches Verhalten im Sinne eines venire contra factum proprium vor.

Die Vergabe sei weiter auch nicht dadurch zu rechtfertigen, dass ein Fall einer Beschaffung in einem übergeordneten Interesse vorläge. Ein solcher Fall liegt vor, wenn der öffentliche Auftraggeber rechtsirrig der Meinung war die jeweilige Leistung direkt vergeben zu dürfen, die Leistungsinteresse der Allgemeinheit insbesondere unter Gesichtspunkten der Daseinsvorsorge aber unverzichtbar ist (vergleiche z.B. OLG München vom 21.2.2013 –  Verg 21/12 bezüglich einer Krankenhausapotheke, wo der Auftraggeber fälschlich davon ausging es handelt sich um eine vom Vergaberecht freigestellt In-house-Vergabe; OLG Frankfurt vom 30.1.2014 – 11 Verg 15/13 zu einer selbstverschuldeten Dringlichkeit in Bezug auf Leistungen des öffentlichen Nahverkehrs). Grundsätzlich käme als übergeordnetes Interesse der Schutz der Mitarbeiter der Ag. bei deren Einsätzen in Betracht. Allerdings meint die VK Bund, dass diese auch ohne die Interimsvergabe grundsätzlich mit den Ausrüstungsgegenständen versorgt seien. Im laufenden offenen Verfahren zur Vergabe der anstehende Anschlussrahmenvereinbarung stehe der Abschluss unmittelbar bevor. Zudem haben die Ausrüstungsgegenstände eine Garantiedauer von 10 Jahren, so dass es sich nicht um ein kontinuierliches Verbrauchsprodukt handelt, das permanent in großen Mengen beschafft werden muss. Dies ergebe sich auch aus der Abrufliste der Ag. Ebenso sei es möglich von ausgeschiedenen Mitarbeitern deren Ausrüstung wenn auch nicht exakt auf einen anderen Träger zugeschnitten auch anderen Mitarbeitern zur Verfügung zu stellen. Eine echte Notlage bezüglich der Versorgung, die eine Direktvergabe übergeordnet Interesse rechtfertigen könnte, sei bei dieser Sachlage nicht gegeben.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung der VK Bund reiht sich in die bisherige Entscheidungspraxis und Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Anwendung der Dringlichkeitsvergabe ein. Zu Recht betont die Vergabekammer in ihrer Begründung, dass der Fall der Dringlichkeit einen Ausnahmetatbestand darstellt. Dieser ist nicht gegeben, wenn das Zeitfenster für den Abschluss einer Anschlussbeschaffung abläuft, ohne dass eine rechtzeitige Neubeauftragung erfolgt ist. Der Tatbestand der Dringlichkeit ist kein Auffangtatbestand für Situationen, in denen aufgrund später Planung bzw. verzögerter Umsetzung der Zuschlag nicht vor Ablauf des laufenden (Vor-)Vertrages erfolgen kann.

Der Auftraggeber als Herr des Verfahrens hat nicht nur die Möglichkeit frühzeitig den Beschaffungsprozess einzuleiten. Aus dem Anspruch der Bieter auf Einhaltung des Vergaberechts gemäß § 97 Abs. 6 GWB leitet sich darüber hinaus eine allgemeine Sorgfaltspflicht zur rechtzeitigen Verfahrenseinleitung ab. Denn die Einhaltung des Vergaberechts umfasst nicht allein den regulären und störungsfreien Verfahrensablauf, sondern auch die Berücksichtigung von Bieterrechten. Dies umfasst unter anderem die Fristverlängerung, wie auch mögliche Angriffe gegen z.B. die Auswahlentscheidung. Daher ist auch ein ausreichendes Zeitfenster für ein Nachprüfungsverfahren einzuplanen, sollte ein unterbrechungsfreier Bezug der Leistung über einen Anschlussvertrag gewünscht oder notwendig sein. Keine dieser Verfahrensverzögerungen ist als ungewöhnlich oder unvorhersehbar einzustufen; es handelt sich um zu Beginn nicht bekannte Entwicklungen, die aber potenziell denkbar sind. Das Tatbestandsmerkmal der Unvorhersehbarkeit ist folglich eng auszulegen.

Auch die Frage der dringlichen Verfügbarkeit der Leistung ist sehr eng auszulegen. Das zeigt die VK Bund in Ihrer Auseinandersetzung mit dem konkreten Beschaffungsgegenstand. Es ist danach anhand des Einzelfalles objektiv zu bewerten, ob eine vorübergehende Nichtverfügbarkeit der benötigten Leistung ein öffentliches Interesse und damit ausnahmsweise die Dringlichkeitsvergabe rechtfertigt. Dies war auch Gegenstand einer nur wenige Wochen zuvor vom OLG Frankfurt zu entscheidenden Falls (Beschl. v. 07.06.2022 – 11 Verg 12/21). Dort war die Dringlichkeit mit finanziellen Einbußen begründet worden, welche durch eine verzögerte Vergabe entstehen würden. In dem Fall war es durch eine Streitigkeit über die korrekte Leistungserbringung zur Kündigung des Auftrages und Neuvergabe der Restleistungen gekommen. Der Umsetzungszeitplan eines neuen Konzeptes des Klinikums zur Verortung der einzelnen Abteilungen in den Gebäuden wäre bei Durchführung des regulären Verfahrens nicht einzuhalten gewesen. Das OLG Frankfurt verneinte die Dringlichkeit unter anderem mit dem Argument, dass der Klinikbetrieb an sich nicht gefährdet war.

Das widersprüchliche Verhalten der Auftraggeber, welches Zustimmung verdient, ist in der Entscheidung des OLG Frankfurt, wie auch bei der oben dargestellten Entscheidung der VK Bund ein weiteres Argument die Dringlichkeit zu verneinen. Wenn eine Vergabe ernsthaft dringlich ist, muss sich dies auch in einer beschleunigten Abwicklung widerspiegeln. Denn nur durch eine zügige Verfahrensführung kann die Vergabe möglichst schnell erfolgen und ein tatsächlich dringlicher Bedarf angemessen zügig gedeckt werden.

Praxistipp

Auftraggeber sollten sich die aus § 97 Abs. 6 GWB resultierenden Sorgfaltspflichten bewusst machen und in die Planung der Beschaffungsabläufe ausreichend zeitliche Puffer einplanen. Dies umfasst neben möglichen Fristverlängerungen durch Bieterfragen, technische Probleme in der eVergabe und der Einlegung von Rechtsmittel auch beim Auftraggeber möglicherweise auftretende Verzögerungen. Durch Krankheit, Urlaub oder besondere Arbeitsbelastungen denkbare Verlängerungen der üblichen Bearbeitungszeiten sollten hier ebenfalls berücksichtigt werden.

Dies gilt nicht nur für wiederkehrende Beschaffungen, sondern auch für einmalige Beschaffungsgegenstände. Denn die Norm des § 97 Abs. 6 GWB macht keinen Unterschied zwischen einmaligen und wiederkehrenden Aufträgen. Das gilt auch für die Normen zur Dringlichkeitsvergabe, u.a. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV. Der strenge Maßstab der Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe erfordert im Regelfall die Durchführung eines regulären Verfahrens. Um Bezugslücken zu vermeiden, ist der Ausnahmetatbestand der Dringlichkeit nicht geeignet. Und er sollte mit Blick auf die Rechtsfolge in Falle eines rechtlichen Angriffs vermieden werden. Denn gemäß § 135 GWB ist der so beauftragte Vertrag als von Anfang an nichtig anzusehen mit allen daraus resultierenden Rechtsfolgen im Rahmen einer Rückabwicklung.

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Über Grit Hömke

Rechtsanwältin Hömke berät bei der Kanzlei Becker Büttner Held PartGmbB, Standort Köln, in und zum Vergaberecht. Sie beschäftigt sich mit Vergaben von Planungsleistungen, der Beschaffung von Energie und Beschaffungsvorgängen in der Infrastrukturplanung sowie dem Infrastrukturbetrieb. Dazu gehören unter anderem Betriebsführungsverträge und Straßenbeleuchtungsdienstleistungen. Darüber hinaus berät Rechtsanwältin Hömke zu Konzessionsverträgen (Strom, Gas, Wasser) und Fragen des Netzbetriebes. Ergänzend begleitet sie Ihre Mandanten zu Fragen des Beihilfe- und Zuwendungsrechts. Weiter ist sie als Referentin und Autorin tätig, u.a. als Mitautorin in einem Kommentar zur KonzVgV.

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