Dieser Beitrag vertritt die provokante These, dass jegliche Art der prozentualen Gewichtung in Zuschlagsformeln eine Illusion darstellt – im günstigeren Fall ein psychologisches Placebo, das unbeabsichtigt zu suboptimalen Beschaffungsergebnissen führen kann. Der fundierte Artikel „Faktencheck Vergabemathematik: Der Mythos der 50 %-Gewichtung“ (Wolfgang Bartsch auf Vergabeblog.de vom 22/01/2024, Nr. 55542) widmet sich mit akribischer Genauigkeit der Entscheidung der VK Lüneburg und legt überzeugend dar, dass die von der VK postulierte Annahme, die einfache Richtwertmethode impliziere eine 50/50-Gewichtung, auf einem Missverständnis beruht. Die folgende Analyse beleuchtet dieses Thema grundlegend – aus einem anderen Blickwinkel – und zeigt, dass Zuschlagsformeln bei üblicher Anwendung und im Sinne von Preis/Kosten zu Leistung nicht die Realität abbilden.
Um diese Hiobsbotschaft erst einmal zu verdauen, folgt ein kurzer Schlenker zu den Zuschlagsformeln.
Die Diskussion um Zuschlagsformeln hat sich in den letzten 15 Jahren signifikant weiterentwickelt und gleichzeitig diversifiziert. Insbesondere die fortlaufenden Aktualisierungen der Unterlage für Ausschreibung und Bewertung (UfAB) zeugen von einer präferierten Hinwendung zu bestimmten Methoden und einer Abkehr von älteren Handhabungen.
Die Polarisierung innerhalb der Vergabegemeinschaft wird besonders bei der Betrachtung der Interpolationsmethoden deutlich. Einige Vergabestellen bevorzugen diese anspruchsvolleren Methoden trotz der inhärenten vergaberechtlichen Risiken, während andere aus Gründen der Rechtssicherheit konsequent die einfache Richtwertmethode anwenden.
Wer sich einen Überblick über risikoärmere Methoden verschaffen möchte, dem bietet die UfAB einen guten Anlaufpunkt. Wer tiefer in die mathematischen Aspekte von Zuschlagsformeln eintauchen möchte, findet in den Arbeiten von Wolfgang Bartsch wertvolle Einsichten.
Aber was haben Zuschlagsformeln mit der Illusion der Gewichtung von Preis und Leistung zu tun?
Alle im Laufe der Zeit entwickelten Zuschlagsformeln streben danach, die Bestimmung des wirtschaftlichsten Angebots zu optimieren – ein Ziel, das sie unter geeigneten Bedingungen erreichen können. Doch die zunehmende Komplexität dieser Formeln, besonders aus einer nicht-mathematischen Perspektive, erschwert deren Anwendung.
Jede Formel birgt spezifische Tücken und Herausforderungen. Ein anschauliches Beispiel ist der so genannte Flipping-Effekt bei Interpolationsmethoden, der in der Rechtsprechung dokumentiert ist und den unzulässigen Einfluss eines Angebots auf die Reihenfolge anderer Angebote beschreibt.
Dies führt zu der Erkenntnis, dass der Versuch, die faktische Realität mit zunehmend komplexen mathematischen Formeln auf Grundlage einer Illusion zu erfassen, eine Sisyphusaufgabe darstellt.
Daher richtet sich (m)ein Appell an die Veränderung des Blickwinkels für einen Moment, um die eingangs erwähnte Illusion zu verstehen.
Zur exemplarischen Veranschaulichung sei die Beschaffung von Notebooks herangezogen. In diesem Beispiel werden mehrere Bewertungskriterien definiert – die exakte Anzahl ist im Grunde beliebig. Alle weiteren Anforderungen, welche sich in der Leistungsbeschreibung befinden, definieren den Beschaffungsgegenstand aus technischer Sicht nicht abschließend, sondern beschreiben im Sinne der Leistungskriterien die zulässigen Leistungskorridore (durch Langtext, Ausschlusskriterien und Bewertungskriterien).
An dieser Stelle erfolgt ein kleiner technischer Ausflug. Im Grunde genommen besteht ein Laptop aus einer Anzahl an Komponenten, die der Hersteller zu einem Endprodukt – hier dem Laptop – kombiniert. In einer idealen Welt wären alle Komponenten perfekt aufeinander abgestimmt und es gäbe an keiner Stelle unnötige Kapazitäten oder Engpässe. In der Realität aber führt der Konkurrenzkampf der Hersteller und eine vermeintliche Detailverliebtheit von Käufern zu einer weiten Produktpalette und teils beliebig zusammengestellten Laptops – bei denen die individuellen Komponenten nicht aufeinander abgestimmt sind.
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags waren in der Kategorie der 15-Zoll-Notebooks auf einer Handelsplattform insgesamt 286 verschiedene Modelle über 13 Marken verfügbar. Die Markenvielfalt wurde angeführt von HP mit über 57 unterschiedlichen Notebooks und Lenovo mit 34 Modellen.
Betrachten wir zwei technisch ähnliche Geräte:
Für einen Aufpreis von 650 Euro erhält der Käufer somit ein Display mit höherer Auflösung und verbesserter Farbwiedergabe. Dies wirft unmittelbar Fragen auf:
Die erste Frage muss meines Erachtens mit einem entschiedenen Nein beantwortet werden. Ein Aufpreis von 100 Euro erschiene angemessener, da komplette Ersatzdisplays mit höherer Auflösung und adäquater sRGB-Abdeckung für 100 bis 200 Euro erhältlich sind. Was uns zur 2. Frage führt.
In diesem Fall obliegt die Bewertung dem Käufer. Praktisch betrachtet, bietet ein Display mit 1.440 Höhenpixeln bei der Bearbeitung von Dokumenten einen deutlichen Mehrwert, indem Menüleisten zusätzlichen Raum erhalten und somit mehr Bildschirmfläche für das eigentliche Dokument verbleibt.
An dieser Stelle lässt sich festhalten, dass der Mehrpreis zumindest kein angemessenes Verhältnis zu den tatsächlichen Mehrkosten oder dem Nutzen aufweist. Die Bestimmung eines wirtschaftlichen Verhältnisses obliegt allerdings schlussendlich dem Käufer – in diesem Fall dem öffentlichen Auftraggeber, der dies in einer vergaberechtlichen zulässigen Zuschlagsformel abbilden muss.
Gehen wir weiterhin von der Annahme aus, dass die Formel eine Bevorzugung des Angebots mit Modell 1 mit einem Preisaufschlag i.H.v. bis zu maximal 200 € abbilden soll. Nehmen wir weiter an, neben diesem entsprechenden Leistungskriterium existieren noch weitere. So müsste aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten die obig dargelegte Analyse und Abwägung für jedes dieser Leistungskriterien durchgeführt und proportional in der Zuschlagformel abgebildet werden. Dieses Unterfangen ist in der Praxis von Anfang an zum Scheitern verurteilt und mit dieser Erkenntnis sollte die Illusion eines „einfachen“ Preis-Leistungs-Verhältnisses weichen.
Die sinnvolle Gewichtung von Kriterien in Vergabeverfahren erfordert eine differenzierte Betrachtungsweise. Es gilt zu entscheiden, welche Kriterien einen maßgeblichen Einfluss ausüben sollen und welche von nachrangiger Bedeutung sind.
Die Auswahl und Ausgestaltung der Zuschlagsformel muss sich primär nach dem Beschaffungsgegenstand und den Charakteristika des erwarteten Wettbewerbs richten. In Sektoren mit geringer Preisvolatilität, wie beispielsweise bei der Beschaffung von Lizenzen und im Lizenzmanagement, wo Angebote preislich nur geringfügig variieren, jedoch in Bezug auf die erbrachte Leistung deutliche Unterschiede aufweisen können. Hier empfiehlt sich eine abweichende/andere Formel als in Bereichen, in denen sowohl preisliche als auch leistungsbezogene Schwankungen ausgeprägter sind, wie etwa im Bereich der IT-Dienstleistungen. Hier bietet sich die Festlegung von Mindeststandards bei den Leistungskriterien an, um qualitativ unzureichende Angebote effektiv auszuschließen.
Das Wesen der Vergabe liegt in der kunstvollen Gewichtung einzelner Kriterien im Vergleich zueinander. Die Entscheidung für eine bestimmte Zuschlagsformel basiert auf einer gründlichen Analyse des Beschaffungsvorhabens und der Dynamik des Marktes, wobei unterschiedliche Marktgegebenheiten divergente Ansätze erfordern können.
Eine praxisnahe Herangehensweise ist das Durchführen von Formel-Simulationen mit verschiedenen Formeln, um eine geeignete Methode zu identifizieren, die im erwarteten Szenario eine passende Dynamik, bzw. Verhalten zeigt. Dies schützt im Zweifel vor unangenehmen Überraschungen.
Dieser Beitrag verdeutlicht, dass die Gewichtung von Preis zu Leistung aus einer anderen Perspektive betrachtet werden muss als allgemein angenommen. Die gängige Praxis der prozentualen Gewichtung entpuppt sich als Illusion. Eine kritische Reflexion und Anpassung der Bewertungsmethodik, gestützt auf fundierte Beiträge wie die von Wolfgang Bartsch, ist daher unerlässlich, um die Integrität des Vergabeprozesses zu wahren.
Sebastian Hürthen hält einen Master in Business Administration (MBA) und verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in der IT- und Telekommunikationsbranche, davon über 10 Jahre als Vergabemanager und in der Leitung großer internationaler Vorhaben. Für die WeCon Beratungsgesellschaft mbH begleitet er öffentliche und private Auftraggeber bei der Konzeption und Durchführung von Beschaffungsvorhaben und IT-Projekten.
0 Kommentare