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OLG Düsseldorf kippt Verbot ungewöhnlicher Wagnisse nach VOL/A 2009 (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 19.10.2011 – VII-Verg 54/11)

§ 97 Abs. 1, 2 GWB; § 7 Abs. 1 VOL/A 2009; § 8 Abs. 1 EG VOL/A 2009; § 7 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2009; § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006; § 9 Nr. 1 VOB/A 2006

ParagraphAnders als die VOB/A 2009 enthält die VOL/A 2009 kein Verbot ungewöhnlicher Wagnisse mehr. Trotzdem haben sich mehrere Vergabekammern und –senate für seine Fortgeltung ausgesprochen. Dem hat das OLG Düsseldorf nun eine Absage erteilt. Danach gilt das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse in der VOL/A 2009 nicht mehr fort. Eine Hintertür hat sich der Vergabesenat jedoch offen gehalten: Einzelne Bestimmungen in Vergabeunterlagen können unzulässig sein, wenn sie aus Sicht eines Bieters „unzumutbar“ sind.

§ 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006 enthielt, ebenso wie § 9 Nr. 1 VOB/A 2006, das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse. Die Bestimmung lautete:

„Dem Auftragnehmer soll kein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet werden für Umstände und Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hat und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen er nicht im Voraus schätzen kann.“

Nicht wenige haben gestaunt, als die VOL/A 2009 in Kraft trat. Anders als § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006, enthalten weder § 7 Abs. 1 VOL/A 2009 noch § 8 Abs. 1 EG-VOL/A 2009 das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse. In § 7 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2009 wurde das Verbot hingegen unverändert übernommen. Ein Unterschied zwischen Bauleistungen einerseits und Dienst- oder Lieferleistungen andererseits ist nicht zu erkennen. Mehrere Vergabekammern sprachen sich deshalb für eine Fortgeltung des Verbots ungewöhnlicher Wagnisse aus. Denn unabhängig von einer ausdrücklichen Regelung enthalte das Verbot eine allgemeine Ausprägung des Wettbewerbsgrundsatzes des § 97 Abs. 1 GWB und des Gleichbehandlungsgebots des § 97 Abs. 2 GWB (vgl. Vergabeblog vom 21.06.2011).

OLG Dresden und OLG Jena schließen sich an

Mit dem OLG Dresden (Beschluss vom 02.08.2011, WVerg 0004/11) schloss sich erstmals auch ein Vergabesenat dieser Auffassung an. Die Gebote der Gleichbehandlung und Transparenz gemäß § 97 Abs. 2 GWB verpflichteten öffentliche Auftraggeber auch weiterhin zu einer angemessenen Risikoverteilung in den Vertragsbedingungen.

Das OLG Jena (Beschluss vom 22.08.2011, 9 Verg 2/11) sprach sich ebenfalls für eine Fortgeltung des Verbots aus, und zwar auch bei der Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen. Zwar ist diesen eine Ungewissheit über die Absatzmenge immanent. Allerdings kann die Überbürdung hoher Vorhaltekosten für Personal und weitere Aufwendungen ein ungewöhnliches Wagnis bedeuten, weil das Verwendungsrisiko für die nachgefragte Leistung bei Lieferverträgen grundsätzlich beim Auftraggeber liegt.

OLG Düsseldorf gegen Fortgeltung des Verbots

Damit gab es aus 2011 mindestens zehn Entscheidungen der Vergabeinstanzen (vgl. Vergabeblog vom 21.06.2011), die allesamt von einer Weitergeltung des Verbots ausgingen. Umso überraschender ist, dass sich das OLG Düsseldorf in seinem Beschluss vom 19.10.2011 (VII-Verg 54/11) gegen die Fortgeltung des Verbots ungewöhnlicher Wagnisse in der VOL/A 2009 ausgesprochen hat. Angesichts der Streichung sei das Verbot formal kein Rechtsgrundsatz mehr. In seinem Beschluss vom 07.11.2011 (VII-Verg 90/11) bestätigte das OLG Düsseldorf seine Auffassung noch einmal.

Beiden Entscheidungen lagen Rahmenvereinbarungen zugrunde. Schon deshalb, so der Vergabesenat, kann die Abwälzung des Verwendungsrisikos der ausgeschriebenen Leistung aus Bietersicht kein Wagnis sein. Auch das Gebot einer eindeutigen und erschöpfenden Leistungsbeschreibung steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit Wagnissen. Denn die vom Auftragnehmer zu erbringende Leistung kann klar und erschöpfend beschrieben werden und gleichzeitig können ihm ungewöhnliche Risiken auferlegt werden, solange diese Risiken nur eindeutig benannt sind. Darüber hinaus ist das Verbot eine spezifische Besonderheit des deutschen Rechts, eine Ableitung aus den Richtlinien ist deshalb nicht möglich.

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„Unzumutbarkeit“ als Grenze

Eine Hintertür hat sich allerdings auch das OLG Düsseldorf offen gehalten: Danach können Ausschreibungsbedingungen im Einzelfall „unzumutbar“ sein. Der Begriff der Unzumutbarkeit wird von der Rechtsprechung von Zeit zu Zeit herangezogen, wenn Auftraggeber in Vergabeverfahren Bedingungen aufstellen, die Bietern übermäßige Anstrengungen abverlangen oder die keinen Bezug zum Auftragsgegenstand haben.

Was der Vergabesenat im Einzelfall unter „unzumutbaren“ Bedingungen versteht und ob er insoweit die Wertungen des Verbots ungewöhnlicher Wagnisse heranziehen will, wird sich zeigen.

Fazit

Das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse schützt die Bieter vor der in vielen Bereichen großen Nachfragemacht des Staates. Sein Wegfall eröffnet Auftraggebern größere Spielräume bei der Risikoverteilung und schränkt die Kontrolle des staatlichen Einkaufs zu Lasten der Bieter ein.

Die beiden Beschlüsse des OLG Düsseldorf beziehen sich aber nur auf Rahmenvereinbarungen. Außerhalb von diesen wird der Freiraum für Auftraggeber tendenziell geringer ausfallen. Der Vergabesenat stellt zudem klar, dass Auftraggeber weiterhin Grenzen zu beachten haben. „Unzumutbare“ Regelungen müssen Bieter auch nach der VOL/A 2009 nicht akzeptieren. Als Bieter fragt man sich allerdings zu Recht, was denn nun noch zumutbar ist und wo die Grenze zur Unzumutbarkeit überschritten wird.

Davon abgesehen wird das Ziel der Vergaberechtsreform von 2009, VOL und VOB einander anzugleichen, einmal mehr durchkreuzt. Es wäre wünschenswert, wenn beide Vertragsordnungen dieselben Maßstäbe an die Risikoverteilung anlegen.

Gut möglich, dass in Kürze der BGH das letzte Wort hat. Denn mit den voneinander abweichenden Entscheidungen der Vergabesenate ist weder Bietern noch Auftraggebern geholfen. Für eine endgültige Klärung durch den BGH müsste ihm jedoch ein Vergabesenat die Sache nach § 124 Abs. 2 GWB („Divergenzvorlage“) zur Entscheidung vorlegen. Bis dahin bleiben Geltung und Grenzen des Verbots ungewöhnlicher Wagnisse in der VOL/A 2009 ungewiss.

Soudry_DanielDer Autor Dr. Daniel Soudry, LL.M., ist Rechtsanwalt in der Sozietät HEUKING KÜHN LÜER WOJTEK in Düsseldorf. Er berät Auftraggeber und Bieter bei Ausschreibungen und in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren. Außerdem betreut er Projekte der öffentlichen Hand. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.

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Über Dr. Daniel Soudry, LL.M.

Herr Dr. Daniel Soudry ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner der Sozietät SOUDRY & SOUDRY Rechtsanwälte (Berlin). Herr Soudry berät bundesweit öffentliche Auftraggeber und Unternehmen bei Ausschreibungen, in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren und im Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Darüber hinaus publiziert er regelmäßig in wissenschaftlichen Fachmedien zu vergaberechtlichen Themen und tritt als Referent in Fachseminaren auf.

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3 Kommentare

  1. Marco Junk

    Im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) wurde die Thematik – vor dieser Entscheidung – bereits rege diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass die Streichung der Vorschrift keineswegs zum Ziel hatte, den Grundsatz entfallen zu lassen, sondern vielmehr die VOL/A um Selbstverständlichkeiten entschlacken sollte.

    Die Diskussion (und nun ggfs. deren Fortsetzung) finden Sie im DVNW unter http://www.dvnw.de.

    Reply

  2. Daniel Soudry

    In einem weiteren Beschluss vom 24.11.2011 (VII-Verg 62/11) hat das OLG Düsseldorf seine Auffassung nochmals bekräftigt. Auch dieser Beschluss betrifft eine Rahmenvereinbarung.

    Reply

  3. Marcus Müller

    Eine schöne Bescherung für die Vergabestellen – aber natürlich nicht für die Bieter. Für die Neufassung der VOL/A 2009 hatte das BMWi den Wegfall des Verbots eines ungewöhnlichen Wagnisses noch als rein deklaratorisch apostrophiert. Das OLG Düsseldorf zeigt sich aber davon unbeeindruckt und verwirft es nunmehr. Somit gilt das Verbot weiterhin für die Baubranche, § 7 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A, aber nicht mehr bei Waren und Dienstleistungen?

    Die beiden Beschlüsse des OLG Düsseldorf vom 19.10. (VII – Verg 54/11) und 024.11.2011 (VII – Verg 62/11) sind streckenweise wortgleich, wenn sie begründen, warum das Verbot des ungewöhnlichen Wagnisses nicht mehr gilt. Der Beschluss vom 07.11.2011 scheint mir aber bei mindestens einem Punkt alles andere als überzeugend zu sein: Wenn alle Bieter „im gleichen Maße“ ein ungewöhnliches Wagnis und damit ein Kalkulationsrisiko haben, sind Gleichbehandlungsgebot und fairer Wettbewerb nicht beeinträchtigt?
    Dann wird aber ausgeblendet, dass die Bieter bei einem ungewöhnlichen Wagnis auch schon ein ungewöhnliches Kalkulationsrisiko haben. Damit greifen aber eben nicht mehr die üblichen, „gewöhnlichen“ betriebswirtschaftlichen Regeln, Risiken z.B. durch entsprechende Rückstellungen oder andere, dafür vorgesehene Aufwände abzufangen. Wie sollen denn ferner die Bieter die Leistungsbeschreibung „im gleichen Sinne verstehen“ und daher „miteinander vergleichbare Angebote“ (§ 7 EG Abs. 2 VOL/A) legen können? Gerade weil bei „ungewöhnlichen“ Risiken die Erfahrungswerte im Zweifel fehlen, sind die Auswirkungen auf die Kalkulation und damit auf den Preis unvorhersehbar.

    Sicher, die Preisbildung ist letztlich Sache der Bieter. Auf der anderen Seite muss der Preis natürlich ein wesentliches Differenzierungsmerkmal sein. Letztlich ist das Vergaberecht ein wichtiges Instrument, um wirtschaftlich zu beschaffen und damit die Steuergelder zu schonen. In das Bild passen aber nicht unterschiedlichste Preisausschläge der Bieter, die der öffentliche Auftraggeber mit einem ungewöhnlichen Wagnis induziert. Die Reaktion der Bieter ist dann im wahrsten Sinne des Wortes kalkulatorisch gesehen ‚unberechenbar‘, die Vergleichbarkeit beeinträchtigt, ebenso die Transparenz des Verfahrens, und seine Wirtschaftlichkeit steht in Frage. Mal ganz abgesehen von den Bietern, die dann erst gar nicht ein Angebot abgeben.

    Kurzum: Die Grundsätze des öffentlichen Vergaberechts sind nicht deshalb schon gewahrt, wenn alle Bieter gleich schlecht behandelt werden. Sie erstrecken sich auch auf deren Reaktionen, die Angebote.

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