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Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid – Die zwei Gesichter einer Rahmenvereinbarung

Seit der Entscheidung des EuGH vom 19.12.2018 () zu der Vorlagerfrage eines italienischen Instanzengerichts, ob es zulässig ist, dass die eine Rahmenvereinbarung nicht unterzeichnenden öffentlichen Auftraggeber (die aber als Beitrittskandidaten benannt sind) nicht die Leistungsmenge bestimmen (müssen), die verlangt werden kann, wenn sie denn beitreten und Leistungen abrufen, wird die Frage, ob nun stets eine Höchstmenge beim Abschluss von Rahmenvereinbarungen festzulegen ist, streitig diskutiert.

Die Befürworter (zuletzt: Csaki/Winkelmann, in: NZBau 2019, 758 ff. m.w.N.; Fischer/Schleper, in: NZBau 2019, 762 ff) folgen – wenig überraschend – der Argumentation des EuGH. Eine kritische Auseinandersetzung und Betrachtung der Entscheidung an den Richtlinienvorgaben findet interessanterweise kaum statt.

Diejenigen, die eine zwingende Festlegung von Höchstmengen verneinen, tun dies überwiegend mit dem Argument, dass die auf der Grundlage der aufgehobenen Richtlinie 2004/18/EG ergangene Entscheidung nicht auf den seit dem Jahr 2014 geltenden neuen europäischen Rechtsrahmen übertragbar sei (Schwabe, IBR 2019, 148, Anm. zu EuGH, NZBau 2019, 116; VK Bund, Beschluss vom 19.07.2019 – VK 1-39/19). Eine Spiegelung der Entscheidung am materiellen Regelungsinhalt der einschlägigen Richtlinienartikel findet sich auch hier leider nur spärlich.

Die Praxis ist demzufolge zu Recht mehr als verunsichert. Überträgt man vorbehaltlos die EuGH-Rechtsprechung auf alle künftig zu schließenden Rahmenvereinbarungen, bedeutet dies den völligen Verlust der von der Rahmenvereinbarung gewollten Flexibilität der Beschaffung. Verneint man eine Übertragbarkeit, setzt man sich dem Risiko aus, möglicherweise von der Rechtsprechung überrollt zu werden.

Im Folgenden wird deshalb der Versuch unternommen, die Entscheidung des EuGH eng am Sachverhalt nachzuvollziehen und an den Richtlinienvorgaben zu spiegeln.

Der Sachverhalt

Im Jahr 2011 schloss eine italienische Gesundheitseinrichtung einen bis 2021 laufenden Vertrag über Reinigungs- und Abfallentsorgungsdienstleistungen. Im Wege einer Erweiterungsklausel wurden weitere öffentliche Auftraggeber als mögliche Beitrittskandidaten namentlich aufgeführt. Im Jahr 2015 trat einer der aufgeführten Auftraggeber dem Vertrag bei und beauftragte den Dienstleister mit Leistungen aus diesem Vertrag.

Der EuGH stufte in seiner o.g. Entscheidung den Vertrag als „Rahmenvereinbarung“ ein.

Die wundersame Wandlung

Nahezu wortgleich definieren Art. 1 Abs. 5 RL 2004/18/EG und Artikel 33 Abs. 1 S. 2 RL 2014/24/EU die Rahmenvereinbarung als eine Vereinbarung zwischen einem oder mehreren öffentlichen Auftraggebern und einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern, die

– nach der Richtlinie 2004/18/EG „zum Ziel hat“

– nach der Richtlinie 2014/24/EU „dazu dient“,

die Bedingungen für die Aufträge, die im Laufe eines bestimmten Zeitraums vergeben werden sollen, festzulegen, insbesondere in Bezug auf den Preis und gegebenenfalls die in Aussicht genommene Menge.

Wundersamerweise schließt der EuGH aus dem Wort „gegebenenfalls“ die Verpflichtung des öffentlichen Auftraggebers, dass die Angabe der in Aussicht genommenen Mengen der Leistungen, die die Rahmenvereinbarung betrifft, nicht fakultativ sei. Vielmehr folgert er aus einer Reihe anderer Vorschriften der Richtlinie, u.a. der Regelungen zur Auftragswertschätzung (Artikel 9 Abs. 9 RL 2004/18/EG), dass die Rahmenvereinbarung von Anbeginn an die Höchstmenge der Lieferungen und Dienstleistungen, die Gegenstand der Folgeverträge sein können, bestimmen müsse (s. Rn 58 ff.).

Schaut man sich die englische Version der Richtlinie an, wird die Interpretation des EuGH des Begriffs „gegebenenfalls“ nicht verständlicher. Hier heißt es „ . . .  and, where appropriate, the quantity envisaged.“

Der Begriff „where appropriate“ bedeutet „dort, wo angebracht“ oder „wo anangemessen“. In der deutschen Umsetzung hat man das bedeutungsgleiche Wort „gegebenenfalls“ gewählt. Das englische „envisaged“ dürfte mit „vorgesehen“, was dem „in Aussicht genommen“ entspricht, übersetzt werden können.

Der von der EuGH-Entscheidung (noch) unbeeindruckte Leser jedenfalls wird hier anhand des Wortlautes keinen Zwang zur Bestimmung einer Höchstmenge hineinlesen. Vielmehr entnimmt er gerade dieser Formulierung die gewollte Flexibilität und einfache Handhabung der Rahmenvereinbarung, was ja von der alten und auch der neuen Richtlinie absolut gewollt war und ist.

Gleichwohl argumentiert der EuGH in Rn 60 seiner Entscheidung, der öffentliche Auftraggeber, der von Anbeginn an an der Rahmenvereinbarung beteiligt ist, unterliege zwar nur einer Handlungspflicht, wenn es darum geht, den Wert und die Häufigkeit jedes einzelnen der Folgeaufträge anzugeben, er müsse jedoch unbedingt die Gesamtmenge angeben, in die sich die Folgeaufträge einfügen können.

Der Wortlaut der Richtlinien ließe demgegenüber vermuten, dass zwar die Bedingungen für den Preis hinsichtlich der Aufträge, die im Laufe des bestimmten Zeitraums vergeben werden, festzulegen sind, nicht aber die in Aussicht genommene Menge.

Die Verwirrung wird noch gesteigert, liest man den folgenden Satz in Rn 62 der EuGH-Entscheidung:

„Die Rahmenvereinbarung fällt nämlich allgemein unter den Begriff „öffentlicher Auftrag“, da sie die verschiedenen Aufträge, für die sie gilt, zu einem einheitlichen Auftrag zusammenfasst“.

Um diese Aussage zu untermauern, werden verschiedene ältere, aber auch neuere Entscheidungen des Gerichtshofs zitiert.

Aus der Vorgabe des Artikel 32 Abs. 3 RL 2004/18/EG, dass wenn eine Rahmenvereinbarung mit einem einzigen Wirtschaftsteilnehmer geschlossen wird, die auf dieser Rahmenvereinbarung beruhenden Folgeaufträge entsprechend den Bedingungen der Rahmenvereinbarung vergeben werden, folgert der EuGH, dass der öffentliche Auftraggeber, der von Anbeginn an an der Rahmenvereinbarung beteiligt ist, sich für sich selbst und für potenzielle öffentliche Auftraggeber nur bis zu einer bestimmten Menge verpflichten könne und dass die Rahmenvereinbarung ihre Wirkung verliert, wenn diese Menge erreicht sei (Rn 61).

Ist die Schlussfolgerung des Wirkungsverlustes der Rahmenvereinbarung im Falle ihrer Erschöpfung noch nachvollziehbar, erschließt sich die Aussage, dass sich aus der Vorgabe zur Vergabe der Folgeaufträge auf der Grundlage der Bedingungen der Rahmenvereinbarung ergebe, dass eine Verpflichtung nur für eine bestimmte Menge erfolgen könne, nicht wirklich.

Der EuGH liefert eine Erklärung, indem er im Weiteren durch die unbedingte Verpflichtung auf die Einhaltung der fundamentalen Grundsätze der Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und Transparenz auch für den Abschluss von Rahmenvereinbarungen die Messlatte sehr hoch legt. Hieraus folgert er, „dass alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens in der Bekanntmachung oder in den Verdingungsunterlagen klar, genau und eindeutig formuliert sind, . . .“ (Rn 63). Damit scheint der EuGH die gewollte Flexibilität der Rahmenvereinbarung zu paralysieren.

Unstreitig sind für den Abschluss von Rahmenvereinbarungen die Verfahrensregeln der Richtlinien und damit auch die fundamentalen genannten Grundsätze maßgebend (Artikel 32 Abs. 2 UA 1; Artikel 33 Abs. 1 UA 1 RL 2014/24/EU). Hieraus folgt aber auch im Umkehrschluss, dass Rahmenvereinbarungen nicht zwingend öffentliche Aufträge darstellen. Ansonsten wäre die Vorgabe zur Anwendung der Verfahrensregeln zur Vergabe öffentlicher Aufträge überflüssig. Es müssen mit der Rahmenvereinbarung demnach grundsätzlich keine gegenseitigen Leistungsverpflichtungen entstehen. Insbesondere muss noch kein entgeltlicher Vertrag vorliegen.

Es drängt sich die Frage auf, ob der EuGH eine falsche Weichenstellung vorgenommen und folglich eine mit dem Wortlaut der Vorschrift und dem unbestrittenen Willen des Richtliniengebers nicht im Einklang stehende Entscheidung getroffen hat. Wird aus Blaukraut demnach Brautkleid?

Bei aller möglichen Kritik an der Entscheidung, dies will man dem EuGH nun doch nicht unterstellen. Wie aber kommt er zu dieser zugegebenermaßen nur schwer nachvollziehbaren Entscheidung?

Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid

Um Licht in dieses Dunkel zu bringen, lohnt sich ein Blick in die Erläuterungen der Kommission zu Rahmenvereinbarungen der klassischen Richtlinie (Dokument CC/2005/03_rev1 vom 14.07.2005). Diese hat die Kommission erlassen, nachdem im Richtlinienpaket des Jahres 2004 die Rahmenvereinbarungen erstmals in den europäischen Vergaberichtlinien geregelt wurden. Damit sollte für einen Vertragstypus, der in der Praxis schon lange Anwendung fand, ein vergaberechtlicher Rechtsrahmen geschaffen werden. Gleichzeitig sollte der erforderlichen Flexibilität dieser Bedarfsdeckungsform Rechnung getragen werden (s. Erläuterungsgrund 11 RL 2004/18/EG; Erläuterungsgrund 60 RL 2014/24/EU).

Die Kommission stellt klar, dass die klassische Richtlinie zwar ausschließlich von „Rahmenvereinbarungen“ spricht, de facto jedoch zwei unterschiedliche Sachverhalte geregelt werden. Die Rahmenvereinbarung hat zwei Gesichter:

– Rahmenvereinbarungen, in denen alle Bedingungen (für den Abruf) der Einzelaufträge festgelegt sind (Variante 1).

– Rahmenvereinbarungen in denen noch nicht alle Bedingungen für die Einzelaufträge festgelegt sind (Variante 2).

Die erste Variante wird als „Rahmenvertrag“ definiert. Bei dieser handelt es sich um traditionelle öffentliche Aufträge, die auch schon nach altem Vergaberecht  verwendet werden konnten. Folglich gelten für den Abschluss dieser Variante die Verfahrensgrundsätze der Vergaberichtlinie uneingeschränkt und unmittelbar.

Die zweite Variante wird als „Rahmenvereinbarung im engeren Sinne“ definiert. Diese stellt keinen öffentlichen Auftrag im Sinne der Richtlinien dar. Sie ist deshalb vergaberechtlich nur zulässig, wenn bei ihrem Abschluss die Verfahrensvorschriften und damit die vergaberechtlichen Grundsätze der Richtlinie eingehalten werden. So erklärt sich die Notwendigkeit der Regelung in Artikel 32 Abs. 2 UA 1 RL 2004/18/EG bzw. Artikel 33 Abs. 1 UA 1 RL 2014/24/EU. Sie bezieht sich nämlich auf Variante 2.

Die Rahmenvereinbarungen, in denen nicht alle Bedingungen festgelegt sind (Rahmenvereinbarungen im engeren Sinne) sind per definitionem unvollständig.  Entweder sind bei dieser Variante nicht alle Bedingungen verbindlich festgelegt, die erforderlich sind, damit darauf basierende Einzelaufträge ohne weitere Vereinbarungen zwischen den Parteien vergeben werden können, oder bestimmte Bedingungen sind in der Rahmenvereinbarung nicht enthalten und müssen später noch  festgelegt werden (Dokument CC/2005/03_rev1 vom 14.07.2005).

Es steht außer Zweifel, dass öffentliche Auftraggeber beide Varianten uneingeschränkt, je nach Zweckmäßigkeit und Art des zugrundeliegenden Beschaffungsbedarfs vereinbaren dürfen.

Anhand der Argumentation des EuGH in seiner Entscheidung wird nun aber klar, welche Variante der Rahmenvereinbarung der Entscheidung des EuGH zugrunde gelegen haben muss. Nämlich Variante 1, ein „Rahmenvertrag“, der traditionell einen öffentlichen Auftrag darstellt. Da öffentliche Aufträge gegenseitig verpflichtende Verträge darstellen, aus denen sich Leistungsverpflichtungen für beide Seiten ergeben, müssen deren Bedingungen bereits bei Vertragsschluss bestimmt werden. Nichts anderes ergibt sich auch aus den vergaberechtlichen Verfahrensregeln etwa zur eindeutigen und erschöpfenden Beschreibung der Leistung.

Nun erschließt sich auch die Notwendigkeit für den EuGH, den Begriff „gegebenenfalls“ interpretieren zu müssen. Es ging ihm nicht darum, die vom europäischen Richtliniengeber gewollte Flexibilität des Instruments der Rahmenvereinbarung zu paralysieren. Der EuGH konnte es vielmehr für die Variante 1 nicht zulassen, dass die fundamentalen Vergabegrundsätze hier gerade nicht oder nur aufgeweicht zur Anwendung kommen. Deshalb hat er durch seine Auslegung klargestellt, dass selbstverständlich für eine Rahmenvereinbarung der Variante 1 die fundamentalen Grundsätze des Vergabeverfahrens zur Anwendung kommen müssen, indem er den Begriff „gegebenenfalls“ so auslegt, dass er der uneingeschränkten Anwendung dieser Grundsätze auf die Variante 1 nicht im Wege steht ohne gleichzeitig dabei die Flexibilität der Variante 2 dadurch einzuschränken.

Im Ergebnis hat der EuGH nach geltendem Recht einen Sachverhalt so entschieden, wie er zu entscheiden war. Er hat das „Recht der Rahmenvereinbarungen“ nicht neu geschrieben. Der EuGH hat lediglich das für die zugrunde liegende Variante der Rahmenvereinbarung geltende Recht angewendet. Nicht mehr und nicht weniger! Damit ist auch klar, dass der Wortlaut der Richtlinienvorgaben auch weiterhin Spielräume für die öffentlichen Auftraggeber eröffnet, nämlich Rahmenvereinbarungen in der Form beider Varianten abschließen zu dürfen.

Wie gezeigt, ist die Entscheidung des EuGH auf die Variante 2 nicht übertragbar. Wollte man dies allen Ernstes fordern, würde man die Entscheidung des EuGH als nicht EU-rechtskonform klassifizieren.

Im Übrigen dürfte die gezeigte Betrachtungsweise nach der Vergaberechtsreform 2014/2016 auch auf Rahmenvereinbarungen im Bereich des Sektorenvergaberechts übertragbar sein.

Fazit

Öffentliche Auftraggeber können folglich auch künftig die Rahmenvereinbarung im engeren Sinne (Variante 2) nutzen und von der hier gewollten Flexibilität z.B. in Bezug auf die Festlegung von Höchstmengen,  Gebrauch machen. Auch die Frage der Risikoverteilung oder einer Abrufverpflichtung muss in diesem Fall nicht neu beantwortet werden.

Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid oder: Mutti, er hat überhaupt nicht gebohrt!

Hinweis der Redaktion

Anlässlich der hier angesprochenen EuGH-Entscheidung – „Antitrust und Coopservice“ wurde ein Diskussionsthema im Mitgliederbereich des DVNW hier erstellt. Der Autor lädt herzlich zur Diskussion ein. Noch kein Mitglied? Zur kostenlosen Mitgliedschaft geht es hier.

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Über Hans-Peter Müller

Der Autor Hans-Peter Müller war über 20 Jahre im für die VO PR Nr. 30/53 federführenden Bundesministerium für Wirtschaft und Energie für deren Inhalt und Anwendung zuständig. Zudem wirkte er maßgeblich im Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien 2004 und 2014 in nationales Recht mit. Er ist Mitherausgeber des Standardkommentars „Ebisch/Gottschalk/Hoffjan/Müller“ zum Preisrecht und er fungierte im April 2016 als Sachverständiger des Bundes vor dem zuständigen Senat des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen eines Verwaltungsstreitverfahrens zum Preisrecht bei öffentlichen Aufträgen. Mittlerweile ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Kunz Rechtsanwälte, Koblenz/Mainz.

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