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Liefer- & Dienstleistungen

Der Betrieb eines Kindergartens als ausschreibungspflichtiger öffentlicher Auftrag (VK Thüringen, Beschl. v. 28.10.2020 – 250-4003-4720/2020-E-009-SLF)

EntscheidungUnter welchen Voraussetzungen ist der Betrieb eines Kindergartens ausschreibungspflichtig? Mit dieser Frage hatte sich die Vergabekammer Thüringen im letzten Jahr zu befassen. Die Vergabekammer Thüringen setzte sich zudem vertieft mit den Anforderungen an den vergaberechtlichen Rechtsschutz gegen unmittelbar bevorstehende de-facto-Vergaben auseinander.

§§ 97, 103 Abs. 1, §§ 130, 134, 135, 160 Abs. 3 GWB; §§ 3, 37, 64, 66 VgV

Leitsatz

  1. Ein interessierter Marktteilnehmer kann nicht nur gegen eine bereits erfolgte, sondern auch gegen eine unmittelbar bevorstehende de-facto-Vergabe mit einem Antrag auf Einleitung eines Vergabenachprüfungsverfahrens vorgehen.
  2. Die Vergabekammer hat bei besonders schwerwiegenden Vergabeverstößen die Möglichkeit eines Einwirkens auf das (Vergabe-) Verfahren, selbst wenn bereits eine Rügepräklusion eingetreten sein sollte. Dies ist (auch) der Fall, wenn ein förmliches Vergabeverfahren und eine europaweite Auftragsbekanntmachung gänzlich unterblieben sind.
  3. Der Begriff der Entgeltlichkeit ist weit zu verstehen und nicht auf die Zahlung eines Geldbetrags durch den Auftraggeber beschränkt. Ausreichend ist jeder vom Auftragnehmer für seine Leistung erlangte geldwerte Vorteil.
  4. Die Entgeltlichkeit eines Vertrags ist auch dann anzunehmen, wenn der Auftraggeber dem Auftragnehmer anstelle der Zahlung eines Geldbetrags Sachwerte unentgeltlich überlässt und für die Überlassung üblicherweise ein Entgelt zu zahlen gewesen wäre.
  5. Auch das Sozialrecht entfaltet keine Sperrwirkung gegenüber dem Vergaberecht. Das Vergaberecht stellt allgemeine Verfahrensregeln für die Beschaffung von Waren und Bau und Dienstleistungen durch die öffentliche Hand auf und erfasst damit grundsätzlich auch den Fall, dass sich die öffentliche Hand bei der Erbringung von sozialen Leistungen externer Leistungserbringer bedient.
  6. Ein öffentlicher Auftraggeber ist verpflichtet, einen öffentlichen Auftrag bei Überschreitung der sog. EU-Schwellenwerte europaweit auszuschreiben (Auftragsbekanntmachung).
  7. Die Auftragsbekanntmachung muss spätestens zu dem Zeitpunkt erfolgen, zu dem eine konkrete Beschaffungsabsicht besteht bzw. objektiv nach außen bekannt gemacht worden ist.

Sachverhalt

Der Auftraggeber, eine thüringische Gemeinde, machte die Durchführung eines Interessenbekundungsverfahrens für den Betrieb eines neuen Kindergartens im Amtsblatt der Verwaltungsgemeinschaft öffentlich bekannt. Der Netto-Auftragswert belief sich auf ca. 900.000 EUR.

Der Auftraggeber stellte klar, dass es sich bei dem Interessenbekundungsverfahren nicht um ein Vergabeverfahren gemäß VOB, VOL oder anderer vergaberechtlicher Bestimmungen handele. Interessierte Unternehmen sollten verschiedene, in einem Teilnahmeformular näher konkretisierte Dokumente einreichen.

Wohnsitzgemeinden sind in Thüringen gesetzlich dazu verpflichtet, die erforderlichen Plätze in Kindertageseinrichtungen bereitzustellen (§ 3 Abs. 2 ThürKitaG).

Der Betreibervertrag sah einen Ersatz der Betriebskosten vor, die durch die Erbringung der Dienstleistung (Betrieb des neuen Kindergartens) entstehen. Darüber hinaus enthielt der Vertrag Regelungen zur unentgeltlichen Überlassung der zum Betrieb des neuen Kindergartens benötigten Räume.

Nachdem mehrere Unternehmen ihre Interessenbekundungen gegenüber den Stadtratsmitgliedern des Auftraggebers sowie weiteren Interessensgruppen vorgestellt hatten, beschloss der Stadtrat einen zeitnahen Betrieb des Kindergartens durch die spätere Beigeladene. Eine Beauftragung lag hierin noch nicht.

Hierüber informierte der Auftraggeber den späteren Antragsteller, welcher daraufhin den Beschluss des Stadtrats als vergaberechtswidrig rügte. Dieser Rüge half der Auftraggeber nicht ab.

Daraufhin stellte der Antragsteller einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer Thüringen. Zur Begründung führte er unter anderem an, dass der Auftraggeber ein förmliches Vergabeverfahren hätte durchführen müssen.

Die Entscheidung

1. Rechtsschutz auch gegen unmittelbar bevorstehende de-facto-Vergaben

Die Vergabekammer stellt zunächst klar, dass die Geltendmachung einer unzulässigen de-facto-Vergabe grundsätzlich voraussetzt, dass der Auftrag bereits vergeben wurde.

Dies folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift des § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB, wonach ein Auftrag von Anfang an unwirksam ist, wenn der Auftraggeber den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union an ein Unternehmen vergeben hat.

Nach Auffassung der Vergabekammer darf der Antragsteller jedoch auch gegen eine unmittelbar bevorstehende Vergabe vorgehen, da der Verweis auf den erst nachträglichen Rechtsschutz des § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB zu einer nicht hinnehmbaren Einschränkung des ihm zustehenden Primärrechtsschutzes führe.

Denn auch insofern sei er in seinem Anspruch aus § 97 Abs. 6 GWB auf Einhaltung der Bestimmungen über das Vergabeverfahren betroffen.

Für die Eröffnung des Primärrechtsschutzes sei zudem kein formelles Vergabeverfahren erforderlich, es genüge vielmehr, dass ein materielles Vergabeverfahren durchgeführt wurde. Ein solches materielles Vergabeverfahren habe die Auftraggeberin aufgrund des durchgeführten Auswahlverfahrens in Gang gesetzt. Zudem liege mit der Entscheidung des Stadtrats eine Auswahlentscheidung vor, aufgrund derer außer Zweifel stehe, dass die Beauftragung der Beigeladenen mit dem Betrieb des Kindergartens unmittelbar bevorstehe.

2. Der Vertrag über den Betrieb des Kindergartens ist ein öffentlicher Auftrag

Nach Auffassung der Vergabekammer stellt die von dem Auftraggeber angestrebte „Vereinbarung zur Betreibung eines Kindergartens und zur Erstattung der Betriebskosten“ einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag über eine soziale Dienstleistung im Sinne von § 130 Abs. 1 GWB dar.

a) Vorliegen eines Beschaffungsbedarfs / keine materielle Privatisierung

Für diese Einstufung stellt die Vergabekammer unter anderem darauf ab, dass Wohnsitzgemeinden in Thüringen gesetzlich dazu verpflichtet sind, die erforderlichen Plätze in Kindertageseinrichtungen bereitzustellen (§ 3 Abs. 2 S. 2  ThürKitaG). Die Gemeinden nehmen diese Aufgabe somit als Pflichtaufgabe im eigenen Wirkungskreis wahr.

Daher bezwecke die von dem Auftraggeber angestrebte Vereinbarung die Deckung seines entsprechenden Beschaffungsbedarfs. Aus der angestrebten Vereinbarung ergebe sich eindeutig, dass die Verpflichtungen der Beigeladenen rechtsverbindlich seien und ihre Erfüllung einklagbar sei. Somit waren nach Ansicht der Vergabekammer die Voraussetzungen für einen öffentlichen Auftrag erfüllt (vgl. auch EuGH, Urt. v. 25.3.2010, Az.: C 451/08).

Zudem stellt die Vergabekammer klar, dass die angestrebte „Vereinbarung zur Betreibung eines Kindergartens und zur Erstattung der Betriebskosten“ keine dem Vergaberecht entzogene sog. „materielle Privatisierung“ darstellt.

In diesem Fall sei eine materielle Privatisierung in dem Sinne, dass auch die Aufgabenverantwortung aus der Kommune heraus verlagert wird, unter anderem bereits deswegen ausgeschlossen, da die Gemeinde einer kommunalen Pflichtaufgabe unterliegt, die Plätze bereitzustellen (§ 3 Abs. 2 S. 2 ThürKitaG).

b) Entgeltlichkeit

Nach Auffassung der Vergabekammer ist auch das Merkmal der Entgeltlichkeit gegeben.

Insoweit stellt die Vergabekammer maßgeblich darauf ab, dass der Vertrag eine Betriebskostenerstattung vorsieht. Hierin sei eine Vergütung für den Betrieb des neuen Kindergartens zu sehen.

Darüber hinaus begründe auch die unentgeltliche Überlassung der zum Betrieb des neuen Kindergartens benötigten Räume die Entgeltlichkeit.

c) Keine Sperrwirkung des Sozialrechts

Dieser Dienstleistungsauftrag ist nach Ansicht der Vergabekammer auch nicht nach den §§ 107 ff. GWB von den Regelungen des 4. Teils des GWB ausgenommen. Das Vergaberecht stelle allgemeine Verfahrensregeln für die Beschaffung von Waren und Bau- und Dienstleistungen durch die öffentliche Hand auf. Es erfasse damit grundsätzlich auch den Fall, dass sich die öffentliche Hand bei der Erbringung von sozialen Leistungen externer Leistungserbringer bedient.

3. Keine Rügepräklusion

Beachtenswert sind zudem die Ausführungen der Vergabekammer zur Rügepräklusion.

Von Teilen der Rechtsprechung wird bei bevorstehenden de-facto-Vergaben ein Rügeerfordernis abgelehnt (OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.4.2010, Az.: Verg W 5/10).

Teilweise wird in der Rechtsprechung allerdings die Auffassung vertreten, dass dann ein Rügeerfordernis besteht, wenn der Auftraggeber kein förmliches Vergabeverfahren durchführt, der Unternehmer über diesen vergaberechtswidrigen Umstand jedoch unterrichtet ist und davon auszugehen ist, dass es aufgrund des insoweit bestehenden Vertrauensverhältnisses ohne weiteres zumutbar und möglich gewesen wäre, dies gegenüber dem Auftraggeber geltend zu machen (OLG Naumburg, Beschl. v. 2.3.2006, Az.: 1 Verg 1/06).

Nach Ansicht der Vergabekammer hatte der Antragsteller den Vergabeverstoß ordnungsgemäß gerügt, sodass die Frage des Erfordernisses einer Rüge in dieser Konstellation nicht entscheidungserheblich war.

Die Vergabekammer weist jedoch nichtsdestotrotz ergänzend darauf hin, dass bei besonders schwerwiegenden Vergabeverstößen die Möglichkeit eines Einwirkens der Vergabekammer auf das Vergabeverfahren gegeben sei, selbst wenn bereits eine Rügepräklusion eingetreten sein sollte. Dies sei im vorliegenden Fall, in dem ein förmliches Vergabeverfahren und eine europaweite Auftragsbekanntmachung bislang gänzlich unterblieben seien, ohne weiteres anzunehmen.

4. Ergebnis

Die Vergabekammer bewertete den Nachprüfungsantrag insgesamt als zulässig und begründet. Der Auftraggeber hätte die Leistungen im Ergebnis somit in einem förmlichen Vergabeverfahren vergeben müssen, da der Schwellenwert von EUR 750.000 netto für die Vergabe von sozialen Dienstleistungen überschritten war.

Rechtliche Würdigung

1. Rechtsschutz gegen unmittelbar bevorstehende de-facto-Vergaben

Die Vergabekammer arbeitet überzeugend die Anforderungen an den Rechtsschutz gegen bevorstehende de-facto-Vergaben heraus.

Anknüpfend an die bereits ergangenen Entscheidungen zum Rechtsschutz in dieser Konstellation stellt die Vergabekammer klar, dass in Fällen, in denen der öffentliche Auftraggeber trotz akuter Beschaffungsabsicht kein formelles Vergabeverfahren durchgeführt hat, vergaberechtlicher Rechtsschutz erforderlich ist, um die Schaffung vollendeter Tatsachen in Gestalt des Zuschlags zu verhindern (OLG München, Beschl. v. 19.7.2012, Az.: Verg 8/12; VK Sachsen, Beschl. v. 27.04.2015, Az.: 1/SVK/012-15). Zwar können de-facto-Vergaben gem. § 135 Abs. 2 GWB auch noch nach Zuschlagserteilung für unwirksam erklärt werden. Nichtsdestotrotz besteht ein Bedürfnis, einen derart schwerwiegenden Vergabeverstoß bereits im Vorhinein zu verhindern (vgl. Horn/Hofmann in: Beck’scher Vergaberechtskommentar, 3. Auflage 2017, § 160 GWB Rn. 15).

Dementsprechend stellt die Vergabekammer auch zurecht darauf ab, dass die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens gegen unmittelbar bevorstehende de-facto-Vergaben nicht von der Einleitung eines förmlichen Vergabeverfahrens abhängen kann. Andernfalls würde der in dieser Konstellation erforderliche Rechtsschutz vereitelt.

2. Der Betrieb eines Kindergartens als öffentlicher Auftrag

Die Einstufung des Auftrags zum Betrieb des Kindergartens als öffentlicher Auftrag überzeugt ebenfalls. Die Vergabekammer arbeitet sorgfältig die Merkmale eines öffentlichen Auftrags heraus, insbesondere dasjenige der Entgeltlichkeit.

Bedeutsam ist zudem, dass die Voraussetzungen einer materiellen Privatisierung bereits deshalb nicht vorliegen, da die Bereitstellung der Plätze für den Kindergarten eine gesetzliche Pflichtaufgabe der Gemeinde darstellt.

Zurecht lehnt die Vergabekammer darüber hinaus eine Sperrwirkung des Sozialrechts ab, indem sie überzeugend die mit der Vergaberechtsreform geschaffenen Sonderregelungen für die Vergabe von sozialen Dienstleistungen anwendet.

Praxistipp

1. Rechtsschutz gegen unmittelbarer bevorstehende de-facto-Vergaben

In prozessualer Hinsicht zeigt der Beschluss instruktiv auf, welche Anforderungen an den vergaberechtlichen Rechtsschutz bei unmittelbar bevorstehenden de-facto-Vergaben gelten. Trotz der Aussagen der Vergabekammer zur Rügepräklusion bei bevorstehenden de-facto-Vergaben sollten Unternehmen  stets eine Rüge einreichen, da zu dieser Rechtsfrage unterschiedliche Ansichten vertreten werden.

2. Betreiberverträge für Kindergärten als ausschreibungspflichtige öffentliche Aufträge

Darüber hinaus trifft die Vergabekammer für die Vergabepraxis wertvolle Aussagen dazu, in welchen Fällen Betreiberverträge für Kindergärten ausschreibungspflichtige öffentliche Aufträge darstellen. Die Kammer verweist in der Begründung des Beschlusses auf eigene Recherchen, nach denen derartige Verträge immer häufiger in förmlichen Vergabeverfahren vergeben werden.

Vor diesem Hintergrund ist für öffentliche Auftraggeber unter anderem entscheidend, ob gesetzliche Regelungen bestehen, aufgrund derer die Bereitstellung der erforderlichen Plätze in Kindergärten kommunale Pflichtaufgabe ist. Besteht eine solche Verpflichtung des Auftraggebers, scheidet eine materielle Privatisierung bereits aus diesem Grund aus.

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Über Lars Lange, LL.M. (Kopenhagen)

Der Autor Lars Lange ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht.

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