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Inhouse-Schwestern können nur eine Mutter haben (OLG Naumburg, Beschl. v. 3.6.2022 – 7 Verg 1/22 – Betriebsführung AZV)

EntscheidungIn der Beschaffungspraxis können Inhouse-Geschäfte in verschiedenen Varianten vorkommen. Die Regeln dazu in § 108 GWB sind umfangreich. Die Rechtsprechung hat in den letzten Jahren Grenzen für kreative Inhouse-Geschäfte aufgezeigt. Der obergerichtlich entschiedene Fall einer Schwester-Schwester-Vergabe zeigt das besonders deutlich.

§ 108 Abs. 3 u. 4 GWB

Leitsatz

Eine Inhouse-Vergabe gemäß § 108 Abs. 3 Satz 1, Alt. 2 GWB zwischen Schwesterunternehmen ist nur möglich, wenn die beiden vertragsschließenden Schwestern von derselben Mutter kontrolliert werden.

Sachverhalt

Ein Abwasserzweckverband (AZV oder Schwester 1) hat fünf städtische Verbandsmitglieder (Mutter 1 bis 5), darunter die Stadt W (Mutter 2), die ihrerseits ein eigenes 100%-iges Tochterunternehmen (Schwester 2) gegründet hat. Der AZV (Schwester 1) beauftragte dieses städtische Tochterunternehmen (Schwester 2) mit seiner kaufmännischen Betriebsführung. Gegen diesen direkt und ohne ein wettbewerbliches Vergabeverfahren geschlossenen Betriebsführungsvertrag wurde ein Nachprüfungsverfahren eingeleitet. Mit Erfolg.

Die Entscheidung

Das OLG Naumburg stellte fest, dass der Betriebsführungsvertrag unwirksam ist, weil keiner der in § 108 GWB aufgeführten Inhouse-Tatbestände erfüllt ist (Rdnr. 25).

Die Voraussetzungen einer (vertikalen) einfachen Inhouse-Vergabe i.S.d. § 108 Abs. 1 u. Abs. 2 GWB liegen nicht vor, weil der AZV (Schwester 1) über die 100%-ige Tochter (Schwester 2) der Stadt W (Mutter 2) keine Kontrolle wie über eigene Dienststellen ausübt (Rdnr. 27).

Ein Inhouse-Geschäft nach den Grundsätzen der (horizontalen) institutionellen Kooperation gemäß § 108 Abs. 4 GWB kommt ebenfalls nicht in Betracht, weil das städtische Tochterunternehmen (Schwester 2) keine Einrichtung ist, die vom AZV (Schwester 1) gemeinsam mit anderen öffentlichen Auftraggebern kontrolliert wird. Denn sie wird ausschließlich von der Stadt W (Mutter 2) kontrolliert (Rdnr. 28).

Eine sog. inverse Inhouse-Vergabe i.S.d. § 108 Abs. 3, Alt. 1 GWB liegt gleichfalls nicht vor, weil der AZV (Schwester 1) nicht der das städtische Tochterunternehmen (Schwester 2) kontrollierende öffentliche Auftraggeber ist, sondern die Mutter 2, also die Stadt W (Rdnr. 30).

Auch die Voraussetzungen einer Inhouse-Vergabe nach § 108 Abs. 3, Alt. 2 GWB seien nicht gegeben. Während das städtische Tochterunternehmen (Schwester 2) zweifelsohne von der Stadt W (Mutter 2) kontrolliert wird, wird der AZV (Schwester 1) von mehreren Städten (Mutter 1 bis 5), u.a. der Stadt W (Mutter 2), gemeinsam kontrolliert (Rdnr. 31). Voraussetzung für die Ausschreibungsfreiheit der sog. Schwester-Schwester-Vergabe sei aber nach dem Wortlaut des § 108 Abs. 3 Satz 1 GWB, dass die beiden vertragsschließenden Einrichtungen von derselben juristischen Person kontrolliert würden (Rdnr. 32).

§ 108 GWB erlaube es auch nicht, die Tatbestände des Abs. 3, Alt. 2 und des Abs. 4 zu kombinieren, um einen ausschreibungsfreien Vertragsschluss zwischen dem AZV (Schwester 1) und dem städtischen Tochterunternehmen (Schwester 2) zu gestatten (Rdnr. 37).

Die in § 108 Abs. 3, Alt. 2 GWB normierte Inhouse-Ausnahme bezöge sich ihrem Wortlaut nach darauf, dass die vertragsschließenden juristischen Personen jeweils von demselben öffentlichen Auftraggeber kontrolliert werden, d.h. dass sie von derselben Mutter kontrolliert werden. Das ist hier nicht gegeben. Abs. 3 spreche auf der Auftraggeberseite des Beschaffungsvorgangs von einem (dem) kontrollierenden öffentlichen Auftraggeber bzw. von einer von diesem (Einzahl) öffentlichen Auftraggeber kontrollierten anderen juristischen Person. Soweit § 108 Abs. 4 GWB eine gemeinsame Kontrolle gegenüber einer anderen juristischen Person als hinreichende Kontrolle legalisiere, beziehe sich diese Vorschrift nach ihrem Wortlaut ebenfalls auf Absatz 1 und nicht etwa auf die Kontrollverhältnisse des Abs. 3. Der Abs. 4 hebe den in Abs. 1 in der Einzahl gebrauchten Begriff des kontrollierenden Auftraggebers nicht etwa auf und weiche ihn auf, sondern lasse ihn unerwähnt (Rdnr. 43).

Ebenso ließen die Systematik der Regelungen (Rdnr. 44 f.) und die teleologische Auslegung (Rdnr. 46 ff.) von § 108 Abs. 3, Alt. 2 u. Abs. 4 GWB keine gegenteiligen Schlüsse zu. Die jeweils in § 108 GWB vorstehenden Absätze würden nicht automatisch auch für die nachfolgenden gelten. Ebenso habe die Gesetzesbegründung, wonach eine Ausweitung der Regelungen des Abs. 3 auch auf Fälle einer gemeinsam von mehreren öffentlichen Auftraggebern kontrollierten Mutter für zulässig erachtet wird, keinen Niederschlag in § 108 GWB gefunden. Schließlich sei wegen des unterschiedlichen Regelungszwecks zweifelhaft, zwei grundsätzlich nebeneinanderstehende Ausnahmetatbestände für ein Absehen von der Ausschreibungspflicht zu kumulieren und dadurch einen größeren Anwendungsbereich der Inhouse-Ausnahme zu eröffnen.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung des Vergabesenates in Sachsen-Anhalt begrenzt die Möglichkeiten für wettbewerbsfreie Inhouse-Vergaben: Inhouse-Geschäfte zwischen Schwestergesellschaften werden ausgeschlossen, die von mehreren öffentlichen Auftraggebern gemeinsam kontrolliert werden.

Das OLG Naumburg bezieht sich in diesem Zusammenhang hauptsächlich auf den singularischen Gebrauch des Begriffs „öffentlicher Auftraggeber“ in Abs. 3. Die Begründung für diese Wahl des Numerus ist insofern zutreffend, als dass die Abs. 1 bis 3 von § 108 GWB offensichtlich die Inhouse-Kontrolle durch eine Einzelperson regeln sollen, während Abs. 4 und 5 die gemeinsame Kontrolle ermöglichen sollen.

Wenn in Abs. 4 auf Abs. 1 Nr. 1 verwiesen wird, bedeutet dies aber nicht, dass der deutsche Gesetzgeber die Anwendungsfälle der gemeinsamen Kontrolle im Vergleich zur Einzelkontrolle einschränkt. Die normative Bezugnahme zu Beginn dient vielmehr nur dazu, die gemeinsame Kontrolle von der Einzelkontrolle abzugrenzen. Dies führt zu einer unerwarteten Regelungslücke bei der gemeinsamen Kontrolle, die entweder analog geschlossen werden muss, oder auf ein Redaktionsversehen bei der Anwendung von Abs. 3 hindeutet.

Bereits im Erwägungsgrund 32 der RL 2024/24/EU wird deutlich gemacht, dass sich die Ausnahmeregelung für die horizontale Zusammenarbeit folglich auf solche öffentlichen Auftraggeber erstrecken soll, bei denen der Auftrag ausschließlich zwischen öffentlichen Auftraggebern geschlossen wird. Dies bedeutet, dass Schwester-Schwester-Vergaben erfasst werden, unabhängig davon, ob diese einzeln (von demselben öffentlichen Auftraggeber) oder gemeinsam (mit anderen öffentlichen Auftraggebern) kontrolliert werden, solange an den Schwestern keine direkte private Kapitalbeteiligung besteht.

Es gibt weitere Gründe, die für eine analoge Anwendung oder ein Redaktionsversehen sprechen. Dies ergibt sich insbesondere aus der Tatsache, dass bei der Anwendung des Tätigkeitskriteriums gemäß Abs. 4 Nr. 2 nicht nur auf die gemeinschaftlich kontrollierenden öffentlichen Auftraggeber abgestellt wird (Alt. 1), sondern auch auf andere von diesen kontrollierte Personen (Alt. 2). Es wäre daher schwer nachvollziehbar, wenn in Bezug auf das Tätigkeitskriterium Tochter- bzw. Schwesterkonstellationen zwar ausdrücklich erfasst werden, dies jedoch beim Kontrollkriterium nicht der Fall wäre. Die Verwendung des Singulars in Abs. 4 Nr. 2, Alt. 2 ist bei europarechtskonformer Auslegung nicht relevant, weil der europäische Richtlinientext (Art. 12 Abs. 3 UAbs. 1 Buchst. b RL 2024/24/EU) und auch die deutsche Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/6281, 81) den Plural verwenden.

Praxistipp

Richter betonen immer wieder die Notwendigkeit, Ausnahmeregelungen wie das Inhouse-Geschäft streng auszulegen. Dennoch darf eine strenge Auslegung nicht die praktische Wirksamkeit, selbst von Ausnahmen, zu stark einschränken. In diesem aktuellen Anwendungsfall hat der nationale Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung deutlich gemacht, dass er den Anwendungsbereich eines Inhouse-Geschäfts bei gemeinsamer Kontrolle gemäß § 108 Abs. 4 GWB nicht enger auslegen möchte als bei einer Einzelkontrolle. Es bleibt daher zu hoffen, dass andere Vergabesenate diese Perspektive bestätigen werden.

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Über Holger Schröder

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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2 Kommentare

  1. Michael Sitsen

    Wäre das nicht eine Frage gewesen, die man dem EuGH hätte vorlegen können? Oder war das OLG ernsthaft der Meinung, der deutsche Gesetzgeber hat die potentiellen Freiheiten der Richtlinie absichtlich enger umgesetzt als möglich? Im Übrigen stimme ich Ihrer Argumentation inhaltlich voll zu.

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  2. Holger Schröder

    Haben Sie vielen Dank für Ihre Anmerkungen, sehr geehrter Herr Kollege Dr. Sitsen. Ich stimme gerne mit Ihnen darin überein, dass für diese praktisch sehr bedeutsame Frage wenigstens ein Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH angezeigt gewesen wäre.

    Reply

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