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EuGH-Verfahren Bereichsausnahme Rettungsdienst – Ein Interview mit den Prozessvertretern beider Seiten

DVNWForum Der Vergabeblog berichtete am 15.11.2018 über das EuGH-Verfahren C-465/17 zur sogenannten Bereichsausnahme „Bereichsausnahme Rettungsdienst“ („Falck Rettungsdienste GmbH, Falck A/S gegen Stadt Solingen“) – siehe .

 

Die „Bereichsausnahme Rettungsdienst“ hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erzeugt. Nachdem der BGH Ende 2008 geklärt hatte, dass Rettungsdienstleistungen grundsätzlich ausgeschrieben werden müssen, gab es in den Folgejahren Ausschreibungen und Verunsicherung bei allen Beteiligten. Auf Betreiben einer parteiübergreifenden europaweiten Initiative wurde auf EU-Ebene die genannte Bereichsausnahme in den neuen Vergaberichtlinien 2014 eingeführt. Im April 2016 hat sie der deutsche Gesetzgeber in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB ins nationale Recht umgesetzt.

Der Vergabeblog hat mit zwei Vertretern von Prozessparteien im Verfahren gesprochen.

(li. Dr. Friton, BLOMSTEIN, re. Kieselmann, SKW Schwarz)

Dr. Pascal Friton von der Kanzlei BLOMSTEIN in Berlin vertritt mit dem dänischen Konzern Falck einen der Antragsteller, der europaweit u.a. Rettungsdienstleistungen anbietet.

René M. Kieselmann von SKW Schwarz Rechtsanwälte in Berlin vertritt auf der Gegenseite zusammen mit Dr. Mathias Pajunk das Deutsche Rote Kreuz (Kreisverband Solingen e.V.).

Das Interview

Warum ist das aktuelle Verfahren beim EuGH so bedeutend?

Friton: Es geht darum, ob private Unternehmen auch zukünftig Zugang zum deutschen Markt für Regel-Rettungsdienstleistungen haben werden. Wenn die Bereichsausnahme auf den Regel-Rettungsdienst und die deutschen – sogenannten – Hilfsorganisationen angewendet werden darf, dann ist die Gefahr groß, dass der deutsche Markt nach und nach wieder verschlossen wird. Die möglichen Folgen liegen auf der Hand: Keine Transparenz, kein Wettbewerb und höhere Preise, die letztlich alle Krankenversicherten zu tragen haben. Auch die sonstigen negativen Begleiterscheinungen bei fehlendem Wettbewerb – insbesondere die Gefahr von Korruption und Kollusion – werden weiter zunehmen.

Kieselmann: Es stellt die Weichen zum Erhalt der überwiegend ehrenamtlich getragenen nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr in Deutschland.

Warum glaubt der Gesetzgeber, dass private Anbieter von Rettungsdienstleistungen die schlechteren Vertragspartner sind?

Friton: Ich glaube nicht, dass es bei der Bereichsausnahme darum geht, wer die besseren oder schlechteren Vertragspartner sind. Was der europäische Gesetzgeber mit der Bereichsausnahme aber wirklich bezwecken wollte, ist unklar. Deswegen streiten wir uns ja im Moment vor dem EuGH.

Kieselmann: Leistungen des Zivil- und Katastrophenschutzes sowie der alltäglichen Gefahrenabwehr sind nicht „marktfähige“ Einzelleistungen, sondern voneinander abhängige und miteinander verknüpfte Teile eines Gesamtsystems. Dieses stellt einen wesentlichen Bestandteil der Daseinsvorsorge unserer Gesellschaft dar. Wichtiges Element dieses Gesamtsystems ist auch die Notfallrettung. Die Verknüpfung von Notfallrettung und Katastrophenschutz ist mittlerweile in Deutschland allgemein anerkannt und auch bereits in vielen einschlägigen Landesgesetzen verankert. Diese Verknüpfung gilt es weiter auszubauen und fortzuentwickeln. Eine wesentliche Rolle spielen hier die vielen gut ausgebildeten ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die nur mit ausreichender Übung und Erfahrung in der alltäglichen Gefahrenabwehr in der Lage sind, auch im Katastrophen- und Verteidigungsfall effektive Hilfe leisten zu können. Dies gilt um so mehr, weil unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verletzbarer geworden ist. Ich bin selbst seit 1993 in Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz aktiv. Daher setze ich mich für ein qualitativ gutes Gesamtsystem der Gefahrenabwehr ein. Die Bereichsausnahme Rettungsdienst ist ein wichtiger Baustein, um das ehrenamtlich getragene Hilfeleistungssystem vor Kommerzialisierung zu schützen.

Was ist aus Ihrer Sicht bei bisherigen Rettungsdienstausschreibungen gut gelaufen, was war schlecht?

Friton: Die meisten rettungsdienstlichen Ausschreibungen der letzten Jahre waren rechtssichere und zuverlässige Verfahren, die den Trägern zuverlässige und qualitativ hochwertige Angebote und Leistungserbringer zu wirtschaftlichen Preisen eingebracht haben. Insbesondere die Berücksichtigung besonderer Anforderungen wie Personalausfallreserven, Konzepte zur Qualitätsverbesserung oder auch die vertragliche Verpflichtung zur Bereitstellung von zusätzlichen Kapazitäten für den Sonderbedarf oder den erweiterten Rettungsdienst sowie den Katastrophenschutz sind Neuerungen, die ohne Vergabeverfahren kaum hätten gewährleistet werden können. Die Qualität und Zuverlässigkeit der Rettungsdienste hat sich dadurch nachweislich verbessert. Entsprechend bleibt nur zu hoffen, dass viele Träger – unabhängig der möglichen Entscheidung des EuGH bzw. nachfolgend des OLG Düsseldorf – weiterhin diesen bewährten, erfolgreichen und absolut rechtssicheren Weg zur Beschaffung ihrer Rettungsdienstleistungen fortsetzen.

Kieselmann: Es hängt von den Stellschrauben des Wettbewerbs ab. Viele Ausschreibungen (unter Ägide des Vergaberechts oder außerhalb, also im „Verwaltungsvergaberecht“) kranken daran, dass teilweise massiv Risiken auf Bieter verlagert werden. Vertragsbeziehungen werden formalistisch. Träger machen teilweise keinen Schritt mehr ohne Rechtsanwalt. Preisanpassungen wegen Tarifänderungen sind oft herausfordernd. Gerade bei einem hohen Anteil von Personalkosten wie im Rettungsdienst ist dies problematisch und für die Qualität des Gesamtsystems schlecht. Dies gilt gerade bei einem Fachkräftemangel, wie er sich in diesem Bereich in den letzten Jahren zeigt. Darüber hinaus ist der hauptamtlich geprägte Rettungsdienst oft zu wenig mit dem restlichen Teil der Gefahrenabwehr verknüpft: Ist es sinnvoll, wenn eine Hilfsorganisation in einem Bereich über Jahre und Jahrzehnte umfangreiche Aufwachskapazitäten aufgebaut hat (Schnelleinsatzgruppen für Großschadensereignisse, Katastrophenschutzzüge, Spezialkräfte wie in der Wasser- und Bergrettung usw.) und dann in einer Ausschreibung ggf. wegen einer Preisdifferenz von wenigen hundert Euro massiv Rettungswachen verliert? Das beschädigt normalerweise den Austausch der ehrenamtlichen Kräfte mit dem Hauptamt. Dieser ist für eine gute Qualität und Motivation wichtig. Viele Ausschreibungen sorgen übrigens für massive Kostensteigerungen.

Wagen Sie eine Prognose: Wird die Bereichsausnahme Rettungsdienst beim EuGH halten?

Friton: Der EuGH wird die Bereichsausnahme sicher nicht vollständig für unwirksam erklären. Die Frage ist eher, in welchem Umfang die Bereichsausnahme erhalten bleibt. Dabei geht es im Kern um zwei Gesichtspunkte:

Erstens: Welche Anforderungen wird der Gerichtshof an die Hilfsorganisationen stellen? Insoweit wird man jedenfalls sagen können, dass der EuGH den Verweis auf die in Bundes- und Landeskatastrophenschutzgesetzen genannten Hilfsorganisationen für unionsrechtswidrig erklären wird. Es wird also eine Einzelfallprüfung durch die öffentlichen Auftraggeber in jedem Vergabeverfahren erforderlich. Alles andere ist nach wie vor völlig offen.

Zweitens: Welche Art von Rettungsdienstleistungen sind nach seiner Auffassung von der Bereichsausnahme erfasst? Nach der mündlichen Verhandlung und den Schlussanträgen dürfte zumindest klar sein, dass der qualifizierte Krankentransport nicht von der Bereichsausnahme erfasst ist und daher nach GWB-Vergaberecht ausgeschrieben werden muss. Hinsichtlich der Notfallrettung bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof sich an seine bisherige Linie hält, dass Ausnahmen eng auszulegen sind. In diesem Fall wäre auch die Notfallrettung weiterhin auszuschreiben.

Kieselmann: Ja.

Wie beurteilen Sie die Anträge des Generalanwaltes?

Friton: Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Gefahrenabwehr geht der Generalanwalt sehr sorgfältig vor und setzt sich intensiv mit unserer Argumentation auseinander. Zu bemängeln ist insoweit lediglich, dass der Generalanwalt nach seinem Begriffsverständnis – über den Wortlaut hinaus – eine erweiternde Auslegung der Bereichsausnahme vornimmt. Das ist nach der Rechtsprechung des EuGH eigentlich nicht zulässig.

Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der gemeinnützigen Organisationen ist hingegen enttäuschend. Eines der wichtigsten Themen in der mündlichen Verhandlung war die Frage des Verhältnisses des Primärrechts zum Sekundärrecht – also insbesondere die Frage inwieweit die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Spezzino und CASTA auch bei der Auslegung der Bereichsausnahme heranzuziehen ist. In diesen Entscheidungen hatte der EuGH Direktvergaben nur an Organisationen erlaubt hatte, die – anders als der deutsche Rettungsdienst – fast ausschließlich mit Freiwilligen arbeiten und nur ihre Kosten erstattet bekommen. Dazu sagt der Generalanwalt leider überhaupt nichts.

Kieselmann: Positiv ist, dass er die Wichtigkeit der Gefahrenabwehr bejaht. Ebenso ist erfreulich, dass er die Bereichsausnahme bejaht und auch relativ lapidar klarstellt, dass damit auch kein Wettbewerb auf der Ebene des Primärrechts erforderlich ist (Fn. 28). Das hatten ja einige Stimmen gefordert; damit hätte man aber „das gleiche in Grün“ und die gleichen Nachteile bestimmter Auswahlverfahren wie bisher. Dass der Generalanwalt hierzu wenig ausführt, macht deutlich, dass er in diesem Punkt keinen Diskussionsbedarf sieht. Unklar und etwas widersprüchlich sind die Aussagen zum Thema „qualifizierter Krankentransport“. Hier gibt es einerseits die Aussage, dass Transport im Krankenwagen mit Rettungssanitäter/Rettungshelfer (eine Qualifikation unterhalb von Rettungsassistent bzw. Notfallsanitäter) in die „Rückausnahme“ fällt (Rn. 83, 3. Spiegelstrich).

Der Generalanwalt erwähnt die „Betreuung und Versorgung von Patienten in einem Krankentransportwagen „durch einen Rettungssanitäter/Rettungshelfer“. Es handele sich dabei „um einen „Transport eines Patienten in einem Krankenwagen“, obwohl er von Fachpersonal betreut wird.“ Hier liege „kein Notfall im eigentlichen Sinne“ vor. Bedauerlich ist, dass das Votum des Generalanwaltes hier nicht den naheliegenden Vorschlag der Kommission (Rn. 28) aufgreift. Diese trug nämlich – wie auch andere Verfahrensbeteiligte – vor: Diese Unterscheidung (nur Transport oder ggf. auch medizinische Dienstleistungen) „müsse bei der Auswahl des Vergabeverfahrens und nicht in einer Notfallsituation oder während einer Patientenbeförderung getroffen werden.“ Bei jedem KTW-Transport kann sich der Zustand so verschlechtern, dass ein medizinischer Notfall vorliegt. Deswegen wählt ein Arzt gerade dieses qualifizierte Rettungsmittel für den Transport aus und nicht den unqualifizierten reinen Transport.

Andererseits gibt es diverse Aussagen im Votum, dass als Abgrenzungskriterium gerade die Ausstattung der Fahrzeuge und die Qualifikation des Personals maßgeblich sein sollten. Nach Auffassung des Generalanwalts unterscheiden sich qualifizierte von den einfachen Krankentransporten dadurch, dass beim qualifizierten Krankentransport „neben der bloßen Beförderung eine für die Versorgung von Notfallpatienten angemessene medizinische oder ärztliche Leistung“ geboten wird. Mit anderen Worten für die Erbringung von Dienstleistungen, die kein anderes Transportmittel bieten könnte.“ Dies spräche dafür, nur den einfachen (nicht qualifizierten) Krankentransport unter die Rückausnahme fallen zu lassen und den qualifizierten Krankentransport als Bestandteil der Gefahrenabwehr anzusehen, weil nur im KTW mit entsprechendem Personal und Material auch die Grundausstattung für die Notfallversorgung vorhanden ist. Beim einfachen Krankentransport ist dies nicht der Fall.

Zur Erläuterung: Es gibt jedenfalls in Deutschland quasi eine Dreiteilung im Bereich Krankentransport: Erstens: Die Notfallrettung (mit dem RTW – Rettungswagen) umfasst Behandlung und Transport von Kranken und Verletzten – teilweise werden damit aber auch Transporte durchgeführt von Menschen, die nicht akut behandlungsbedürftig sind. Zweitens gibt es den sogenannten „qualifizierten Krankentransport“ (mit dem KTW – Krankentransportwagen). Dort werden normalerweise keine Notfälle versorgt, sondern Patienten transportiert, die ein gewisses Maß an medizinischer Überwachung benötigen. Dieser qualifizierte Krankentransport ist aus unserer Sicht ein wichtiger Bestandteil der Gefahrenabwehr: Bei großen Schadensereignissen ist nicht der Großteil der Patienten schwerstverletzt. Es gibt viele mittelschwer und leicht Verletzte. Für diese benötigt man eine große Flotte an Krankentransportwagen, die einen Mindeststandard an medizinischer Versorgung ermöglichen. Diese Versorgung ist in der dritten Fallgruppe, dem nicht qualifizierten Krankentransport (teilweise auch „Taxifahrten“, „Liegendtaxi“ etc. genannt) nicht möglich. Dort sind weder die Fahrzeuge mit Material ausgerüstet noch haben die Fahrer eine medizinische Qualifikation, die über den normalen Erste-Hilfe-Kurs hinausgeht. Dies ist nach unserer Ansicht die Fallgruppe des einfachen Krankentransportes, der unter die Rückausnahme fällt.

Wie könnte die Vergabewelt unter Fortgeltung der Bereichsausnahme aussehen?

Friton: Würde die Bereichsausnahme den gesamten Regel-Rettungsdienst erfassen, stünde es den Trägern weiterhin frei, die Dienstleister im Wege von Vergabeverfahren auszuwählen. Das wäre im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit der Beschaffung auch anzuraten. Es ist allerdings davon auszugehen, dass eine Vielzahl von Auftraggebern diesen Weg nicht gehen werden, was zu den bereits umrissenen problematischen Auswirkungen führen dürfte. Trotz Bereichsausnahme dürften allerdings alle gemeinnützigen Anbieter und nicht nur die traditionellen Platzhirsche einen Anspruch auf Teilnahme an einem Auswahlverfahren haben. Wie ein solches Auswahlverfahren aussehen könnte und ob Rechtsschutz erlangt werden kann, steht in den Sternen. Wenn der EuGH aber richtig entscheidet, spielen diese Gedankenspiele auch in Zukunft keine Rolle.

Kieselmann: Um die Bereichsausnahme Rettungsdienst anwenden zu können, müssten die Auswahlverfahren sich auf die in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB genannten Organisationen beschränken. Dazu muss ggf. das jeweilige Landesrecht noch angepasst werden.

Wenn der Rettungsdienst dann nicht mehr unter das Vergaberecht fällt, stellt sich die Frage, wie Aufträge bzw. Konzessionen zugeteilt werden. In vielen Fällen sind Träger ja öffentliche Stellen wie Landkreise/Kommunen und Zweckverbände. Diese müssen dann in irgendeinem Modus die Hilfsorganisationen beauftragen. Teilweise wendet man hierfür die Blaupausen aus Vergabeverfahren nach dem GWB an (ergänzt durch den Hinweis, dass nicht der Rechtsweg zur Vergabekammer offensteht, sondern man zum Verwaltungsgericht gehen muss). Wenn dabei allerdings die Verknüpfung mit den Aufwachskapazitäten, also dem Gesamtsystem, nicht beachtet wird, hat man keinen Mehrwert. Die gleichen Nachteile wie oben genannt blieben bestehen.

Unser Vorschlag ist über ein „Planungsmodell“ nachzudenken. Dort könnte man den Bedarf an Ressourcen der Gefahrenabwehr und Schutzzielen insgesamt bestimmen. Eine Hilfsorganisation bekäme dann in einer Art Interessenbekundungs-/Verhandlungsverfahren so viel Anteile am Rettungsdienst wie sie sich in der sonstigen Gefahrenabwehr (z.B. dem Bevölkerungsschutz) engagiert. Dies stellte einen Anreiz dar, diesen wichtigen Bereich zu pflegen und zum Nutzen der Gesellschaft zu unterhalten. Die Einzelheiten dazu muss man diskutieren.

Wir danken für das Gespräch und erwarten eine spannende Debatte beim DVNWforum am 12. April 2019.

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