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ProcurCompEU: „Öffentliche Beschaffungsswesen als strategische Funktion begreifen“ – Dr. Knapton-Vierlich im Interview

KnaptonVierlich Dr. Katharina Knapton-Vierlich ist mit der Wahrung der Geschäfte beauftragte Referatsleiterin des Referats Öffentliches Auftragswesen (GROW.C.2) in der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU und unter anderem zuständig für die strategischen Fragen des öffentlichen Auftragswesens. Im Januar diesen Jahres berichtete Vergabeblog (Vergabeblog.de vom 27/01/2021, Nr. 46244) über den von der EU Kommission veröffentlichten Kompetenzrahmen für Fachkräfte des öffentlichen Beschaffungswesen (ProcurCompEU) über den wir nachfolgend mit ihr sprechen:

Vergabeblog: Sehr geehrte Frau Knapton-Vierlich, seit Ende Januar ist ProcurCompEU online verfügbar. Was ist ProcurCompEU?

Knapton-Vierlich: ProcurCompEU wurde als Europäischer Kompetenzrahmen für Fachkräfte des öffentlichen Beschaffungswesens von der Europäischen Kommission im Dezember 2020 veröffentlicht und ist ein Instrument zur Förderung der Professionalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens in der EU und darüber hinaus.

ProcurCompEU zielt primär darauf ab, das öffentliche Beschaffungsswesen als strategische Funktion zu begreifen und öffentliche Einkäufer für die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.

Denn der öffentliche Einkauf wird im Rahmen der Investitionsvorhaben rund um den Green Deal und das Wiederaufbaupaket in Europa eine entscheidende Vorreiterrolle einnehmen. Mit dieser Rolle einher geht auch die Notwendigkeit für transparente, flexible und moderne, an die Bedürfnisse angepasste Prozesse und Verfahren in der öffentlichen Beschaffung – einschließlich des Personalmanagements.

ProcurCompEU hilft Organisationen in der Beschaffung und ihren Fachkräften konkret dabei, festzustellen, welche Kompetenzen und Kenntnisse sie benötigen, zu bewerten, ob sie diese haben und, wenn nicht, sie zu entwickeln. So lassen sich zielgerichtete Trainingsprogramme und Organisationsstrukturen entwerfen, die dabei helfen kompetente Fachkräfteteams strategisch aufzubauen.

Vergabeblog: Warum ist ein europäischer Kompetenzrahmen für Fachkräfte des öffentlichen Beschaffungswesens erforderlich?

Knapton-Vierlich: Jedes Jahr werden europaweit von den 250 000 Vergabestellen rund 14 % des BIP der EU für den Erwerb von Dienstleistungen, Bauleistungen und Lieferungen aufgewendet. Diese öffentlichen Ausgaben und Investitionen haben das Potenzial eine innovative, ressourcenschonende und sozial inklusive Wirtschaft in Europa aktiv voranzutreiben, sofern diese Ausgaben und Investitionen im Einklang mit unseren gemeinsamen politischen Zielen getätigt werden.

Als Wegbereiter für private Investitionen wohnt dem öffentlichen Einkauf eine transformative Kraft inne, dessen Potenzial immens ist. Aber um dieses Potenzial auch ausschöpfen zu können, bedarf es im öffentlichen Beschaffungswesen moderner und effizienter Prozesse mit einem strategischen Blick auf die Rolle der Einkäufer.

Die Professionalisierung ist hier von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass Fachkräfte in öffentlichen Beschaffungsstellen auch in Zukunft über die benötigten Kompetenzen verfügen, um ihre Aufgaben nicht nur im Einklang mit den Rechtsvorschriften, sondern auf möglichst effiziente, wirksame und strategische Weise zu erfüllen.

Es geht im öffentlichen Einkauf nicht nur darum, für die Bürger*innen ein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis zu zielen. Vielmehr werden öffentliche Beschaffungsstellen entscheidend dazu beitragen, Europas digitale, grüne und sozial inklusive Zukunft zu gestalten. Um dies zu ermöglichen, muss auch das Berufsbild „Einkäufer“ neu verhandelt werden.

Denn heute gibt es in vielen Verwaltungen keine klaren Vorgaben, welche Qualifikationen Mitarbeiter*innen als Einkäufer mitbringen sollten oder welche Karriere- und Entwicklungsmöglichkeiten sie haben. Unternehmerische und strategische Kompetenzen werden in der öffentlichen Verwaltung häufig unterbewertet, was zu einem sehr legalistischen, auf die Einhaltung der Vorschriften ausgerichteten Ansatz führt. ProcurCompEU hilft dabei, dies zu ändern.

Vergabeblog: Wer sollte mit ProcurCompEU arbeiten und wie?

Knapton-Vierlich: Das sind in erster Linie einzelne Fachkräfte und Organisationen des öffentlichen Beschaffungswesens. Aber auch Schulungsanbieter können ProcurCompEU zur Entwicklung umfassender Schulungs- und Studienprogramme nutzen.

Im Kompetenzrahmen wurden insgesamt 30 Schlüsselkompetenzen festgelegt, die dafür benötigt werden die öffentliche Beschaffung der Zukunft aktiv zu gestalten. So können Fachkräfte des öffentlichen Beschaffungswesens einschätzen, wo sie derzeit stehen, wohin sie sich entwickeln wollen und welche der Kompetenzen sie hierfür benötigen. ProcurCompEU erleichtert somit die berufliche Ausbildung und Entwicklung im öffentlichen Beschaffungswesen vor allem für Mitarbeiter*innen. Der Kompetenzrahmen besteht aus einer Reihe kostenloser und einfach anzuwendender Instrumente, mit welchen die Nutzer*innen proaktiv und partizipativ arbeiten können.

Eine Kompetenzmatrix hilft dabei, zu definieren, wie die tägliche Arbeit im strategischen Einkauf idealerweise aussieht, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Mit dem Selbstbewertungsinstrument können sich Mitarbeiter*innen hinsichtlich ihres Kompetenzniveaus einschätzen. Organisationen können eventuelle Schwachstellen identifizieren und diese mit gezielten Lern- und Entwicklungsmaßnahmen auf Basis eines Schulungsplans beheben.

ProcurCompEU verfolgt so den ganzheitlichen Ansatz, Mitarbeiter*innen in den Beschaffungsstellen dazu zu befähigen, nicht nur ihre eigene, sondern vielmehr die Entwicklung des gesamten öffentlichen Einkaufs entscheidend mitzuprägen.

Vergabeblog: Bereits 2017 veröffentlichte die Kommission eine „Empfehlung zur Professionalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens“ (link). Im Rahmen von ProcurCompEU wurde eine weitere Studie zum Stand der Professionalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens veröffentlicht (derzeit nur auf Englisch – Link).

Was ist die wichtigste Schlussfolgerung der Studie für Deutschland und wann wird die Studie in deutscher Übersetzung erscheinen?

Knapton-Vierlich: Die Studie ergab, dass Deutschland vor allem im Hinblick auf die Professionalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens Nachholbedarf hat. Hier ist vor allem die mangelnde Ausbildung von Beamten im Zusammenhang mit öffentlicher Beschaffung zu nennen. In Deutschland gibt es zum Beispiel keine verpflichtenden Schulungen zum öffentlichen Beschaffungswesen im Lehrplan für Beamte.

Aufgrund der zunehmenden Komplexität des Vergaberechts konzentriert sich die Ausbildung von Fachkräften im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens auf rechtliche Aspekte. Wirtschaftliche Aspekte und spezifische Schulungen, z.B. zu innovativeren Verfahren, werden so oftmals in der Aus- und Weiterbildung nicht hinreichend berücksichtigt.

Zudem gibt es in Deutschland weiterhin anhaltende Unterschiede bei den Beschaffungspraktiken zwischen Ländern und Kommunen. Aufgrund der dezentralisierten Struktur in Deutschland wird die Vergabe öffentlicher Aufträge unterhalb der EU-Schwellenwerte häufig durch spezifische Landesgesetze oder kommunale Gesetze geregelt. Dies führt innerhalb Deutschlands zu Unterschieden bei vorhandenen Kompetenzen von Mitarbeiter*innen des öffentlichen Beschaffungswesens.

In Deutschland liegen die Prioritäten im Hinblick auf die Professionalisierung darin, Mitarbeiter*innen im Hinblick auf nachhaltigere und innovationsfördernde Beschaffungsverfahren zu befähigen. Das Beschaffungsamt des Innenministeriums hat bereits ein spezielles Referat eingerichtet, um in diesem Bereich Best Practices zu sammeln und Leitlinien, Schulungen und Beratungsdienste anzubieten.

Eine Übersetzung der Studie in die deutsche Sprache ist derzeit nicht vorgesehen.

Vergabeblog: Welche EU-Mitgliedstaaten sind im Hinblick auf die Professionalisierung ihrer Systeme der öffentlichen Auftragsvergabe besonders gut?

Knapton-Vierlich: Die einzelnen Mitgliedsstaaten haben im Anschluss an die Empfehlung von 2017 unterschiedliche Ansätze verfolgt, die Professionalisierung im öffentlichen Beschaffungswesen voranzutreiben.

Mehrere Länder haben ProcurCompEU bereits umgesetzt oder sind dabei. Hier sind vor allem Slowenien, Malta, Rumänien und Estland zu nennen. Zudem bieten alle Mitgliedstaaten der EU inzwischen zumindest einige grundlegende Initiativen wie Helpdesks und Schulungs- oder Beratungsinstrumente an.

Auf der anderen Seite stehen wir noch ganz am Anfang des Prozesses. Selbst die fortschrittlichsten Mitgliedstaaten beginnen erst jetzt damit, innovativere Methoden wie E-Learning oder partizipativere Ansätze in Aus- und Weiterbildung zu entdecken und umzusetzen. Gerade die Digitalisierung kann hier ein entscheidender Treiber sein, Mitarbeiter*innen im Einkauf für die Zukunft zu befähigen.

Das wahrscheinlich am weitesten fortgeschrittene Land ist Frankreich: Hier gibt es eine festgeschriebene Laufbahnentwicklung für Fachkräfte des öffentlichen Beschaffungswesens, die von der Direktion für öffentliches Beschaffungswesen (DEA) entwickelt wurde. Diese unterstützt die Anerkennung des Einkäufers im öffentlichen Beschaffungswesens als eigenständigen Beruf.

Ein weiteres Projekt der DEA ist ein soziales Netzwerk, welches die Zusammenarbeit und den Austausch von Fachwissen über komplexe Beschaffungsprojekte in der staatlichen Verwaltung erleichtern soll. Auch regionale Initiativen konzentrieren sich in Frankreich auf einen kompetenzbasierten Ansatz und stellen hierfür z.B. Online-Instrumente bereit, um den Austausch zwischen Verwaltungen zu erleichtern.

Vergabeblog: Die Studie befasst sich auch mit anderen Ländern außerhalb der EU. Aus welchen positiven Beispielen könnte man lernen?

Knapton-Vierlich: Die Studie zeigt besonders gut entwickelte Beispiele für Kompetenzrahmen oder sonstige Professionalisierungs-Initiativen auf nationaler Ebene, die als Inspiration für Methodik, Konzeption und Inhalt von ProcurCompEU gedient haben.

Zu nennen ist hier zum Beispiel Schottland, nun Teil eines Drittlandes der EU. Der hier entwickelte Kompetenzrahmen zielt explizit darauf ab, die Laufbahnentwicklung von Vergabemitarbeiter*innen im öffentlichen Sektor zu unterstützen. Zudem werden bereits Schüler*innen in der Sekundarstufe Karrieremöglichkeiten in der öffentlichen Auftragsvergabe aufgezeigt.

In Neuseeland wird mit einem spezifischen Index und einem darauf aufbauenden Selbstbewertungstool gearbeitet, um Kompetenzunterschiede zwischen verschiedenen öffentlichen Beschaffungsstellen zu verringern und so das gesamte System professioneller aufzustellen.

Auch die USA haben verschiedene Kompetenzmodelle und Zertifizierungsprogramme entwickelt, um einheitliche Kompetenzen und Standards für das Personal ziviler Stellen zu schaffen, die vergaberelevante Arbeiten ausführen.

Vergabeblog: Um das öffentliche Beschaffungswesen als attraktives Arbeitsfeld zu positionieren, ist die Vergütung ein besonders wichtiger Aspekt. Auch in der oben erwähnten jüngsten Studie wird darauf Bezug genommen, doch fehlt ein Vergleich bestimmter vergleichbarer, an die Kaufkraft angepasster Beschäftigungsprofile für die EU. Wird es irgendwann einen solchen Vergleich geben?

Knapton-Vierlich: Aufgrund der Besonderheiten der öffentlichen Verwaltung unterscheiden sich die Verfahren für die Einstellung von Fachkräften im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens in den einzelnen Mitgliedstaaten erheblich. Hauptsächlich sind sie allerdings Beamten oder Angestellte im öffentlichen Dienst.

Viele öffentliche Auftraggeber haben Schwierigkeiten, erfahrene Expert*innen zu gewinnen, da die Gehälter des privaten Sektors in der Regel höher sind als die des öffentlichen Sektors. Strenge Einstellungsanforderungen, z.B. der Beamtenstatus, stellen eine zusätzliche Herausforderung im Hinblick auf die Einstellung von qualifiziertem Personal und die berufliche Mobilität dar. In manchen Mitgliedstaaten gibt es auch nur wenig Aufstiegschancen. Das ist für private Einkäufer anders, auch wenn sie manchmal ähnliche Imageprobleme haben wie öffentliche Einkäufer.

Für Zentrale Beschaffungsstellen (CPB) sind diese Probleme weniger relevant, denn sie sind oftmals flexibler bei der Gehaltsgestaltung. Insofern sind sie in der Regel auch erfolgreicher bei der Einstellung von benötigten Expert*innen und weisen eine geringere Personalfluktuation auf.

Vergabeblog: Sehr geehrte Frau Knapton-Vierlich, wir danken sehr für das Gespräch!

Anmerkung der Redaktion

Das Interview führte Jan Buchholz vom DVNW.

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