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EuGH erleichtert vergabefreien Auftragnehmerwechsel (EuGH, Urt. v. 03.02.2022 – C-461/20 – Advania)

Entscheidung-EUZahlungsunfähigkeit oder Überschuldung von Auftragnehmern führen häufig zu organisatorischen Umstrukturierungen. Wird ein Auftragnehmer durch einen anderen Auftragnehmer während der Laufzeit eines öffentlichen Auftrages ersetzt, stellt dies nach § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 GWB eine wesentliche Änderung dar. Ein neues Vergabeverfahren ist dann notwendig. Gegebenenfalls steht dem öffentlichen Auftraggeber nach § 133 Abs. 1 Nr. 1 GWB sogar ein Kündigungsrecht zur Seite. Keine erneute Ausschreibung ist ausnahmsweise nötig, wenn der Auftragnehmerwechsel im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung erfolgt. Dazu zählt auch die Insolvenz. Wird dabei nur ein Vertrag des insolventen Auftragnehmers und kein Geschäftsbereich oder keine Betriebssparte übernommen, stellt sich die Frage nach einem zulässigen Auftragnehmerwechsel.

Art. 72 Abs. 1 Buchst. d) Unterbuchst. ii) RL 2014/24/EU, § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB.

Leitsatz

Wird über das Vermögen eines Auftragnehmers das Insolvenzverfahren eröffnet, liegt ein zulässiger Auftragnehmerwechsel auch dann vor, wenn ein neuer Auftragnehmer nur die aus einem Vertrag folgenden Rechte und Pflichten des insolventen Unternehmens übernimmt.

Sachverhalt

Ein öffentlicher Auftraggeber hat für die Beschaffung von IT-Hardware Rahmenvereinbarungen in einem nicht offenen Verfahren abgeschlossen. Einer der Rahmenvertragspartner ging insolvent. Der Insolvenzverwalter übertrug mit Zustimmung der Vergabestelle die IT-Rahmenvereinbarung auf das bislang nicht vertraglich gebundene Unternehmen Advania. Dagegen ersuchte ein anderer Rahmenvertragspartner um Rechtsschutz, weil Advania keine Geschäftsbereiche oder kein weiteres Vermögen des insolventen Unternehmens ganz oder teilweise übernommen habe.

Die Entscheidung

Bei einem Auftragnehmerwechsel ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass darin die Änderung einer wesentlichen Vertragsbestimmung des öffentlichen Auftrages liegt. Eine solche Änderung muss zu einem neuen Vergabeverfahren nach Art. 72 Abs. 4 Buchst. d) RL 2014/24/EU [bzw. § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB] führen (Rdnr. 18).

Ausnahmsweise ist keine Ausschreibung erneut nötig, wenn im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung einschließlich Übernahme, Fusion, Erwerb oder Insolvenz ein neuer Auftragnehmer ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt und die damals festgelegten qualitativen Eignungskriterien erfüllt. Zudem darf der Auftragnehmerwechsel keine weiteren wesentlichen Änderungen des Auftrages zur Folge haben und nicht dazu dienen, das EU-Vergaberecht zu umgehen (Rdnr. 20).

Nach dem Wortlaut des Art. 72 Abs. 4 Buchst. d) Unterbuchst. ii) RL 2014/24/EU darf der neue Auftragnehmer die Vermögenswerte des alten Auftragnehmers ganz oder teilweise übernehmen, also auch nur einen öffentlichen Auftrag oder eine Rahmenvereinbarung, so die Luxemburger Richter (Rdnr. 23). Der Wortlaut bietet keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Begriff der Insolvenz auf solche Situationen beschränkt wäre, in denen der vertragsgegenständliche Geschäftsbereich des ursprünglichen Auftragnehmers zumindest teilweise fortgeführt werden müsste (Rdnr. 28). Zwar ist eine enge Auslegung dieser Ausnahmeregelung notwendig. Allerdings darf der Ausnahme nicht ihre praktische Wirksamkeit durch die Auslegung genommen werden. Das wäre jedoch der Fall, wenn der unter den übernommenen Vertrag fallende Geschäftsbereich des insolventen Auftragnehmers zumindest teilweise vom neuen Auftragnehmer fortgeführt werden müsste (Rdnr. 30).

Dieses Ergebnis wird durch das Hauptziel von Art. 72 Abs. 4 Buchst. d) Unterbuchst. ii) RL 2014/24/EU gestützt (Rdnr. 32). Es besteht darin, bei der Normanwendung eine gewisse Flexibilität zu schaffen, um pragmatisch auf eine Reihe außergewöhnlicher Sachverhalte zu reagieren, wie etwa auf die Erfüllung eines öffentlichen Auftrages oder einer Rahmenvereinbarung verhindernde Insolvenz des erfolgreichen Bieters (Rdnr. 37). Dementsprechend bedarf es keines zusätzlichen, nicht vom Wortlaut gedeckten Kriteriums einer ganzen oder teilweisen Geschäftsfeldübernahme (Rdnr. 33).

Rechtliche Würdigung

Änderungen öffentlicher Aufträge während ihrer Vertragslaufzeit sind in der Beschaffungspraxis kaum wegzudenken. Der EuGH hat dafür die Rahmenbedingungen in seiner viel beachteten Pressetext-Entscheidung (Urt. v. 19.06.2008 C-454/06 Pressetext, Rdnr. 40 ff.) erstmals festgelegt und später bestätigt (Urt. v. 07.09.2016 C-549/14 Finn Frogne, Rdnr. 28 ff.). Die Spruchpraxis des EuGH wurde schließlich in Art. 72 Abs. 4 Buchst. d) RL 2014/24/EU weitgehend normiert und von Deutschland in § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GWB umgesetzt. Die Berücksichtigung des Anwendungsfalls der Insolvenz scheint hingegen auf eine von der EU-Kommission geübte Beschaffungspraxis zurückzuführen sein (Inden, in: Steinicke/Vesterdorf, Brussels Commentary on EU Public Procurement, 2018, Art. 72 Rdnr. 15).

Bei den in § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB genannten Beispielsfällen von Unternehmensumstrukturierungen ist die Insolvenz mit der Übernahme, dem Zusammenschluss und Erwerb kaum inhaltlich vergleichbar und bedarf daher einer eigenständigen Auslegung. Letztere schließen die Weiterführung der Geschäftstätigkeit des betroffenen Unternehmens ein. Dies ist bei einer Insolvenz hingegen nicht zwangsläufig. Denn das insolvente Unternehmen kann weitergeführt, es kann aufgelöst und seine Vermögenswerte veräußert werden. Im Falle einer Insolvenz ist es daher nicht zwingend, dass neben der Übertragung eines öffentlichen Auftrages oder einer Rahmenvereinbarung auf einen neuen Auftragnehmer noch weitere Vermögenswerte auf ihn übergeben müssten. Die Wortlautauslegung beschränkt den Begriff der Insolvenz also nicht auf die Fälle, in denen die Geschäftstätigkeit des insolventen Unternehmens aufrechterhalten wird. Eine Verpflichtung im Falle der Insolvenz wenigstens einen Teil der geschäftlichen Tätigkeit des ursprünglichen Auftragnehmers fortführen zu müssen, kann mit dem üblichen Begriffsverständnis der Insolvenz somit nicht verbunden werden. Der Luxemburger Richterspruch ist deshalb folgerichtig und praxisorientiert.

Praxistipp

Der vergabefreie Auftragnehmerwechsel nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB erfordert neben einer Unternehmensumstrukturierung (wie etwa der Insolvenz), auch die Prüfung, ob der neue Auftragnehmer die ursprünglich festgelegten Eignungskriterien erfüllt. Zudem darf die unternehmerische Umstrukturierung keine weiteren wesentlichen Änderungen gemäß § 132 Abs. 1 GWB zur Folge haben. Schließlich darf mit der Ersetzung des ursprünglichen Auftragnehmers nicht das Ziel verfolgt werden, das EU-Vergaberecht zu umgehen.

Führt der ursprüngliche Auftragnehmer sein Unternehmen im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens selbst fort (sogenannte rechtsträgererhaltende Sanierung) und wird seinen Gläubigern beispielsweise eine Unternehmensbeteiligung eingeräumt, ist dies grundsätzlich vergaberechtlich ohne Bedeutung. Denn insoweit ändert sich nur die Gesellschafterzusammensetzung des schuldnerischen Auftragnehmers (vgl. schon OLG Naumburg, Beschl. v. 29.04.2010 – 1 Verg 3/10, Rdnr. 63 – juris). Er bleibt also als Unternehmen erhalten. Bei der sogenannten übertragenden Sanierung im Insolvenzverfahren wird hingegen nicht der Erhalt des schuldnerischen Auftragnehmers verfolgt, sondern die Übertragung einzelner Vermögensverwerte (z.B. eines öffentlichen Auftrages) auf ein neues Unternehmen. Diese kann daher einen zulässigen Auftragnehmerwechsel nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB rechtfertigen.

Eine darüberhinausgehende Verallgemeinerung des Luxemburger Richterspruchs, dass eine schuldrechtliche Vertragsübernahme (i.S.d. § 415 BGB) generell als eine Unternehmensumstrukturierung im europarechtlichen Sinne verstanden werden kann, wie dies bei der VK Bund (Beschl. v. 26.02.2016 – VK 2 – 7/16; anders OLG Naumburg, Beschl. v. 29.04.2010 – 1 Verg 3/10, Rdnr. 63 juris) anklingt und teilweise im Schrifttum vertreten wird, dürfte aber allenfalls bei konzerninternen Umstrukturierungen denkbar sein (vgl. auch Erwägungsgrund 110 RL 2014/24/EU, BT-Drs. 18/6281, S. 120).

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Über Holger Schröder

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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