Im politischen Berlin ist es offensichtlich mehrheitsfähig, dass es am Vergaberecht liegt, wenn öffentliche, insbesondere komplexe Groß- und IT-Projekte nicht rechtzeitig fertig werden, nicht im Kostenrahmen bleiben oder beides eintritt. Dies gilt erst recht für den desolaten Zustand der Bundeswehr. Vielleicht auch deshalb, weil man damit einen Schuldigen gefunden hat.
Richtig aber ist, dass ungedeckter verteidigungs- und sicherheitsrelevanter Bedarf, der auf politischen Versäumnisse vergangener Jahrzehnte beruht, nicht so schnell wie nun nötig im Wege geordneter Regel-Vergabeverfahren nachgeholt werden kann. Und so kommt, was kommen muss: Das „Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz (BwBBG)“. Es steht dem Vernehmen nach in dieser Woche auf der Agenda der Kabinettssitzung. Dem Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) liegt das zugrundeliegende Eckpunktepapier vor:
Ein Auszug:
Keine zwingende Unwirksamkeit eines Vertrages bei de facto-Vergabe
Kürzung des Instanzenzuges im Nachprüfungsverfahren auf eine Instanz (für dringliches Material)
Keine Verpflichtung zur losweisen Vergabe
Generelle Ausnahme vom Vergaberecht für Aufträge, die Schlüsseltechnologien betreffen
Kein automatisches Zuschlagverbot bei einem Nachprüfungsverfahren
Kein Teilnahmewettbewerb, wenn nur ein feststehender Kreis an Marktteilnehmern für den Auftrag in Frage kommt
Das nur ein Auszug aus dem Giftschrank. Tatbestandsmerkmale wie Schlüsseltechnologien oder feststehender Kreis von Marktteilnehmern bieten dabei einen weiten Einschätzungsspielraum. In Kombination mit Einschränkungen des Rechtsschutzes eine bemerkenswerte Kombination.
Wir sprachen zu den Plänen mit Prof. Michael Eßig von der Universität der Bundeswehr:
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Der Gesetzentwurf orientiert sich am LNG-Beschleunigungsgesetz zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases (siehe Vergabeblog.de vom 23/05/2022, Nr. 49847). Mehr als eine bloße Formfrage dürfte aber werden, wie sich die ambitionierten Pläne mit den EU-Vergaberichtlinien vereinbaren lassen. Die Kolleg/innen im federführenden Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) sind ob der Aufgabe, das Runde in das Eckige zu bekommen, jedenfalls nicht zu beneiden. Aber vielleicht werden im Ringen zwischen dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und BMWK ja doch noch ein paar Punkte der Wunschliste oben gestrichen.
Wir werden berichten.
Das Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz (BwBBG) wird sicher auch ein Thema auf unserem 9. Deutschen Vergabetag am 17. & 18. November 2022 in Berlin (hier geht es zu Programm und Anmeldung).
Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Betriebsw. Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW). Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. Seit 2022 ist Marco Junk als Leiter Regierungsbeziehungen für das IT-Dienstleistungsunternehmen Atos tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
Hallo Herr Junk,
es wundert mich, dass in dieser verteidigungspolitisch brisanten Lage und vor dem Hintergrund eines gigantischen Auf- und Nachrüstungsprogramms lediglich versucht wird, an – wenn auch – sensiblen Stellschrauben des Vergabe- und Nachprüfungsrechts „herum zu doktern“. Wie Sie zu Recht sagen, kommt es darauf an, ob sich die ambitionierten Pläne eines solchen BwBBG “ mit den EU-Vergaberichtlinien vereinbaren lassen.
Vor diesem Hintergrund wundert es mich allerdings auch, dass noch niemand den Artikel 346 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) thematisiert hat, nach dem (verkürzt ausgedrückt) „wesentliche Sicherheitsinteressen des Staates“ mit Blick auf die Beschaffung von Waffen, Munition & Co. zu einer Suspendierung von europäischen Vergaberecht führen könnte (EU-Primärrecht vor EU-Sekundärrecht ! ) Dann wäre man ganz aus dem EU-Vergaberecht raus und es gälte dann nur Haushaltsrecht.
Das aber wäre eine politisch weitreichende Entscheidung, die wohl in Berlin niemand gerne treffen würde; Zeitenwende hin oder her.